Umstürzende Reissäcke (ohne Video)

Ich bin ja, was sicher auch an meinem Alter liegt, eine leidenschaftliche Zeitungsleserin. Gleichwohl studiere selbst ich inzwischen nicht mehr alle Tageszeitungen und Magazine in Papierform am Frühstückstisch, sondern verschaffe mir recht häufig morgens im Büro auch online einen Überblick über die internationale Nachrichtenlage. Das Spektrum des rezipierten digitalen Schrifttums ist breit, die Zeit ist es jedoch oft nicht in gleichem Maße, und so reicht die morgendliche Neugier meist nur von Bild bis Spiegel online (nicht alles dient auch der Meinungsbildung).

Um noch mehr Zeit in Geld zu verwandeln, trage ich mich jedoch seit einiger Zeit mit dem Gedanken, die Lektüre in Zukunft auf eine der beiden Online-Publikationen zu reduzieren oder in täglicher Alternierung zwischen den beiden zu wechseln. Denn wo sich die gedruckten Blätter auf vielfältige Weise unterscheiden, ist das bei den Online-Versionen ja nicht mehr unbedingt der Fall.

Überraschend häufig kann man zum Beispiel auf beiden Internetseiten am gleichen Tag die gleichen DPA-Meldungen lesen, in identischem Wortlaut. Erschreckend nah beieinander sind die beiden Online-Auftritte vor allem aber auch da, wo es um ein Phänomen geht, das mich im besten Fall nur beim Lesen stört, in den schwärzesten Stunden jedoch den Rückfall des Abendlandes in Analphabetismus und Illiteralität vor meinem geistigen Auge rot-weiße Gestalt annehmen lässt. Die Rede ist von den zahllosen Videos, die in den Online-Ausgaben der großen deutschen Zeitungen und Magazine immer häufiger das geschriebene Wort ergänzen respektive ablösen. Ich persönlich spreche lieber von „Filmchen“, denn inhaltlich kommt das Dargebotene ja in den meisten Fällen über den Diminutiv  nicht hinaus.

„Mit Video“ – was unter diesem Label so lockend annonciert wird, ist thematisch breit gestreut. Von aufsehenerregenden Tier-Dokus („Krabbe liefert sich Schwertkampf mit Koch“, Bild.de) über spektakuläre Katastrophenfilme („Mann findet Maus in Getränkedose“, Bild.de) und Action-Streifen („Mad Mike schießt sich selbst 570 Meter in die Luft“, Spiegel online, SPON) bis hin zum Wetterbericht („Orangefarbener Schnee in Osteuropa“, SPON) reicht das Matinee-Programm. Für Einheit in dieser Vielfalt sorgt allein die Bildqualität: Meist handelt es sich um verschwommene, verwackelte Handyaufnahmen, die auf Schulkinder aus aller Welt als Urheber schließen lassen. Ganz ähnlich wie mit der optischen Gestalt verhält es sich auch mit der Relevanz des Gezeigten, die gemeinhin durch einen Sack Reis in China repräsentiert wird.

„Zug rammt Laster von Gleis“ (SPON), „Aggro-Gans attackiert Soldaten“ (Bild.de), „Truck wendet direkt am Abgrund“ (beide): Um nicht die Allgemeinheit mit diesem Unsinn zu behelligen, gab es für solche Filmchen früher im TV eine eigene Sendung mit dem Titel „Pleiten, Pech und Pannen“. So viel Rücksicht wird heutzutage nicht mehr genommen, und so finde ich mich manchmal – zumindest im Falle des Online-Spiegel – in ungläubigen Staunen wieder, dass mir diese Auswahl an Informationen wirklich auf einer der größten deutschen Zeitungs-Internetpräsenzen geboten wird.

Eben weil ich es kaum glauben kann, frage ich, treuherzig wie ich bin, natürlich sofort, was der gute Grund dafür sein kann, dass man hier seinen guten Ruf so leichtfertig aufs Spiel setzt. Will hier eine Informations-Avantgarde über die neuen Medien auch neue, ehedem eher bildungsferne Zielgruppen ansprechen und sie – quasi auf dem Weg der Subversion – für, hm, linkes Gedankengut gewinnen (und somit auch gleich der AFD abjagen)? Kommt SPON also direkt von Sponti? Oder geht es darum, das Zeitungssterben mit einer breiten Offensive zu kontern, die, alle Stärken des Internets nutzend, auf Multimedialität setzt, also quasi auf allen Kanälen feuert?

Das Zeitungssterben scheint mir in jedem Fall ein Schlüssel zu sein. Und natürlich habe ich in diesen zeitungsfeindlichen Zeiten auch ein wenig Verständnis für eine personell unterbesetzte Redaktion, die die lange, lange, lange leere Seite jeden Tag mit irgendwas füllen muss (außer mit den preiswerten Erzeugnissen aus Handy-Wood, auch gerne mit unerfreulich vielen Teasern für Artikel der Bezahlversion; aber das ist schon wieder ein anderes Thema). Für gänzlich ausgeschlossen hingegen halte ich es, dass es allein um die Werbung geht, die den Filmchen vorgeschaltet ist, die niemand abschalten und der so auch niemand entgehen kann.

Ich favorisiere ganz eindeutig die Avantgarde-Theorie und habe auch einige gute Argumente dafür. Denn nicht nur bei Spiegel Online geht man in puncto filmische Berichterstattung inzwischen völlig neue Wege und kauft nicht mehr nur im Amateur-Geschäft, sondern dreht oder gestaltet beherzt auch immer mehr selbst. Und wer das Ergebnis dieser erstaunlichen Experimente sieht, der hat nicht selten das Gefühl bei etwas völlig Neuem dabei zu sein. Denn es handelt sich zumeist um seltsame Zwitterformen, geboren und erfunden allein, um uns vor unergründliche Rätsel zu stellen.

Da sind zum einen die Videos der Kategorie „moderner Stummfilm“. Das sind Aufnahmen von den diversen Orten des nachrichtenrelevanten Weltgeschehens, die aber – ganz im Zeichen der verfremdenden Freiheit der Kunst – ihrer originalen Geräuschkulisse beraubt sind und auch keinen störenden Sprecher mehr kennen. Stattdessen sind sie mit sehr, sehr seltsamer Musik unterlegt, und Untertitel präsentieren die Nachricht, erklären also, was zu sehen ist. Hier wird der Film quasi über den Weg des Wortes der Zeitung einverleibt. (Ich weiß auch nicht, warum ich immer an den „Daily Prophet“ bei Harry Potter denken muss.)

Die zweite Form, das gänzlich eigenproduzierte Video, geht eher den umgekehrten Weg und macht aus der Zeitung selbst den Film. Da sieht man dann den Kulturredakteur plötzlich vor der Kamera, wie er – akademisch-seriös in grauem Hemd unter blauem V-Ausschnitt-Pullover (oder umgekehrt) – druckfrisch und ohne jedes Zeichen von Mündlichkeit (und auch sonst recht reglos) eine Filmkritik einspricht, wie sie wortwörtlich auch im Magazin erscheinen könnte. Doch nicht nur im Kulturressort ist die multimediale Revolution zu Hause. Auch in der tagesaktuellen Reportage aus dem Inland sind selbst gedrehte Bewegtbilder, die ganz auf den Journalist und seinen Text setzen, ein probates Mittel der Information.

Da steht dann ein bestenfalls durchschnittlich aussehender Jungreporter mit Bart auf der Straße vor der Essener Tafel, erzählt, was man in der Zeitung zum Thema längst gelesen hat, bleibt beharrlich an seinem Platz und verzichtet – ganz der strengen neuen Form verpflichtet – konsequent darauf, irgendjemand der vielen Leute um ihn herum zu interviewen oder gar einen der Verantwortlichen vor der Kamera zu Wort kommen zu lassen. Stattdessen übernimmt der Bärtige auch deren Part und referiert – indirekte Rede statt filmischer O-Ton -, was diese Leute gesagt haben, und eigentlich wird in den ganzen 1:21 Minuten auch kaum etwas anderes gezeigt als er und sein Bart.

Respekt, ihr lieben Freunde, das haben wir so noch nie gesehen! Zumindest nicht in der Zeitung. Wir alten Leute und Spielverderber aber erinnern uns sofort: ans Fernsehen, dieses öde Seniorenmedium. Da macht man ganz Ähnliches, und zwar bei Mittelrhein TV, Franken Fernsehen und anderen lokalen TV-Sendern. Keine Frage, denen ist der Video-Club von Spiegel Online schon ganz dicht auf den Fersen. Wenn die Mitglieder jetzt zum Beispiel ab und zu sonntags mal „Weltspiegel“ oder dienstags „Report“ gucken, dann kann irgendwann noch etwas ganz Großes daraus werden.

Doch schon heute ist natürlich angesichts all dessen vor allem die Frage: Warum will die Zeitung jetzt auch noch Fernsehen sein? Warum will man unbedingt mit dem TV konkurrieren, wo doch ganz offensichtlich das Geld und das Know-how dafür fehlen (und es „Spiegel TV“ ja auch schon gibt). Nun, vermutlich weil der deutsche Qualitätsjournalismus, ehrgeizig und investigativ, wie er nun einmal ist, uns nur so auf die Spur der ganz großen Fragen setzen kann.

Diese aber lauten: Wieso darf in den rot-weiß untertitelten Filmchen auf keinen Fall gesprochen werden? Ich meine, wenn die Leute das doch gucken, weil sie nicht lesen wollen/können? Und wer komponiert eigentlich diese noch nie gehörten, avantgardistischen Klänge, die in ihrer verstörenden Einfachheit kühn noch jene Grenzen überschreiten, die Fahrstuhl- und Kaufhausmusik einst bereits erschreckend weit verschoben haben? Ist hier eventuell schon ein neuer, allein auf die Filmchenmusikproduktion spezialisierter Berufszweig entstanden (und kann man da eventuell auch als völlig unmusikalischer Mensch außerkategorial viel verdienen)?

Und wie geht es weiter? Werden sich die deutschen Zeitungen irgendwann wieder auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren? Oder werden sie mit Hilfe ihrer ins Internet verlängerten Arme der Eliminierung von Schriftlichkeit weiter Vorschub leisten und damit quasi auch an ihrer eigenen Ausrottung weiterhin unbeirrt mitarbeiten? Die Antwort steht in den Sternen. Die aufmerksame Beobachtung der sich stetig verändernden Medienlandschaft jedoch zeigt: Die multimediale Offensive geht ungebrochen weiter: Selbst bei Bild Online gibt es neben Videos seit Neuestem auch Podcasts („Hören Sie mal, wie YouTube einen dick machen kann“). Es sieht so aus, als müsste sich jetzt auch das Radio ganz, ganz warm anziehen.

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