Die Schönheit von Übergangsjacken

Der Mensch wird nackt geboren. Schon sehr bald darauf wird er aber – zumindest in unseren Breiten – von anderen wohlmeinenden Menschen maximal warm eingepackt. Das bleibt er dann ein paar Jahre, bis irgendwann endlich der Ausgang aus der textilen Unmündigkeit und Fremdbestimmung beginnt und es ein jeder nach seiner eigenen Façon versucht. Von Freiheit kann dabei natürlich keine Rede sein, denn es gibt ja die Mode, der alles unterliegt. Und so ist es nun ganz sicher ein Zeichen von Mode, dass die Jugend von heute so hartnäckig danach trachtet, sich im maximal möglichen Maße von Kleidung zu befreien und stets und überall nur im T-Shirt zu erscheinen.

Selbstverständlich ist dies eine Mode, für die ich keinerlei Verständnis aufbringe. Denn ich schätze die hiesige Vielfalt der Jahreszeiten; ich liebe neben dem Sommer auch den Frühling, am meisten den Herbst und sehr auch den Winter, also jene drei von vier Jahreszeiten, in denen meinem offensichtlich antiquierten Temperaturempfinden nach größtenteils kein T-Shirt-Wetter herrscht. Das schert den jungen Mensch und Revoluzzer wenig: Kaum weicht der Winter und der Frühling macht die Bäume wieder grün, entblättert sich die Jugend, entledigt sich der Jacke und ist die nächsten acht Monate mit oben nichts als einem T-Shirt auf der Straße zu sehen. Die Freiluft-Saison beginnt nach meiner Beobachtung ab ca. 13 Grad, und es ist inzwischen auch keine Seltenheit mehr, dass zum kurzen Shirt sofort auch kurze Hosen getragen werden. Ich sah dies erst letzte Woche mehrfach.

Im Winter ist es prinzipiell nicht anders. Man trägt zwar Jacke drüber, aber drunter immer T-Shirt. Neulich war ich – der Sport bringt die Generationen zusammen – auf einem 32. Geburtstag eingeladen. Draußen waren es minus fünf Grad, drinnen war ich trotzdem die einzige mit langen Armen. Es spricht zwar klar für die Leistungsfähigkeit der Heizungsanlagen in unseren Häusern, dass in geschlossenen Räumen niemand mehr Rollkragenpullover tragen muss, aber nicht nur aus ökologischen Gründen wäre es vielleicht bereichernd, die Raumtemperaturen ein wenig herunterzuregeln. Denn schließlich geht dieser transsaisonale T-Shirt-Trend nicht nur mit einer gewissen modischen Verarmung einher, sondern bedroht in letzter Konsequenz auch große Teile der einheimischen Bekleidungsindustrie.

Es reicht also nicht, sich einfach nur fremdzufrieren oder dem jungen Mensch angesichts von Shorts im März zuzurufen: „Was trägst du eigentlich im August?“ Um Abhilfe zu schaffen, Arbeitsplätze und schließlich auch den Generationenvertrag zu retten, wäre es viel wichtiger zu wissen, warum die jungen Leute so offensichtlich blind und unempfänglich sind für die Schönheit von Hemden, Strickpullovern, Übergangsjacken etc. Warum fühlen sie die Kälte nicht? Haben sie mehr Hitze als wir früher? Oder sind sie abgestumpfter?

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Arm oder Bein? Nur im T-Shirt kann man zeigen, was man hat.

Vielleicht liegt es, wie gesagt, einfach an der Mode. Denn zu der gehören ja auch all diese herrlichen Tätowierungen und Sachen, die weite Teile des Jahres ein Dasein in Dunkel und Unsichtbarkeit frönen müssten, trüge und behaupte man nicht ganzjährig Sommer. Nicht auszudenken, wenn all diese Kunstwerke, Statements und identitätsbildenden Maßnahmen nie jemand zu Gesicht bekäme!

Nun, Körperkult verliert mit den Jahren deutlich an Relevanz und Faszination, wie überhaupt ja Verlust das vorherrschende Lebensgefühl im Alter ist. Nichts anderes empfinde ich allerdings auch, wenn mir die Jugend im promethischen Eifer mit Hilfe von T-Shirts, Heizpilzen und der Erderwärmung all die schönen Jahreszeiten wegglobalisiert. Vielleicht stemme ich mich deshalb so gegen die klimatische Nivellierung und Langweilisierung.

Daneben, und das muss man den jungen Leuten zugute halten, spricht freilich auch einiges dafür, dass es neben den interindividuellen tatsächlich auch einige intergenerationale Unterschiede in der klimatischen Kognition gibt. Ich denke da zum Beispiel an klimakterische Frauen, zu deren traumatischsten Erfahrungen es ja gehört, dass ihr Temperaturempfinden plötzlich nicht mehr mit dem ihrer Umwelt übereinstimmt. Mir fallen aber auch meine über achtzigjährigen Eltern ein, die ich in ihrer Vier-Zimmer-Sauna meinerseits nur noch im T-Shirt besuche, während sie über ihrem dicken Pullover noch eine Strickjacke tragen. Dies weitergedacht geht der Mensch vermutlich keineswegs auch wieder völlig nackt aus dieser Welt.

Aus all dem lässt sich aber noch eine weit wichtigere Erkenntnis ableiten: nämlich dass hinsichtlich jenes populistischen Kniffs, im Wetterbericht neben dem absoluten Wert auch die gefühlte Temperatur zu nennen, dringend Handlungsbedarf besteht. Hier ist eindeutig weitere Differenzierung angezeigt: „Bonn, Regen, 13 ˚C, gefühlte Temperatur 20-Jährige: 25 ˚C, 50-jährige Frauen: 32 ˚C, 50-jährige Männer: 12 ˚C, 80-Jährige: minus 1 ˚C.“

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