Es gibt kein besseres Mittel der Abgrenzung zwischen Jung und Alt als die Musik. Das funktioniert zwar in beide Richtungen, besitzt allerdings nur in eine revolutionäres Potenzial. Ja, die Jugend kann, wenn sie gut ist, das Alte in Grund und Boden spielen. In der Vergangenheit ist das schon mehrfach gelungen. Was die deutsche Gegenwart angeht, habe ich da jedoch so meine Zweifel. Denn zwar haben wir hierzulande wieder so viele erfolgreiche deutschsprachige Popkünstler wie seit den Zeiten der Neuen Deutschen Welle nicht mehr, aber von Kraft, Knall und Krawall kann bei alldem nicht die Rede sein. Eigentlich ist es eher so: Ob Max Giesinger, Marc Foster, Wincent Weiss oder Andreas Boruani: Alle jammern und winseln im selben Lamento einher, und man weiß gar nicht, wer von diesen Schmerzensmännern der schlimmste ist.
Vielleicht Philipp Poisel, dessen Song „Wie soll ein Mensch das ertragen?“ zwar im Hinblick auf die deutsche Gegenwartsmusik die richtige Frage stellt, aber seinerseits leider auch gänzlich unerträglich ist. Gleichwohl, die Frage gilt, und zwar umso mehr, als sich diese erschreckende Resignation und Larmoyanz auf alle Bereiche erstreckt, die gemeinhin Gegenstand der Popmusik sind. Allen voran die Liebe: „Lieber Wolke 4 mit dir, als unten wieder ganz allein“, singt Philipp Dittberner mit trauriger Stimme, ein bisschen Beat und so einer kleinen Gitarre, die allem widerstrebt, was ich an Blechbläsern und Euphorie mit der Liebe, zumal in jungen Jahren, verbinde. Jetzt mal ganz ehrlich: Wem kann man denn ernsthaft diesen miesen Antrag machen? So dick kann gar kein Mädchen sein, dass es mit dem nöligen Philipp auf der drittbeschissensten Wolke sitzen möchte. So kriegt man im Zweifelsfall noch nicht mal ein Tinder-Date.
„Ey, da müsste Musik sein“, findet ganz in diesem Sinne auch Wincent Weiss und wünscht sich im gleichnamigen Song zum Gefühl „Trompeten, Geigen und Chöre“. Allein, man weiß nicht, was er damit sagen will: Fehlen sie ihm jetzt, weil er sie fühlt, oder fehlen sie ihm am Gefühl? Die Molltöne, die neben einigem falschen Pathos auch hier vorherrschen, suggerieren Letzteres. (Falls das nicht stimmen sollte, hätte er in jedem Fall vergessen, dass es als Musiker seine Aufgabe wäre, die Geigen, Trompeten und Chöre zu liefern.) Ganz ähnlich ist es auch bei Max Giesingers „Einer von 80 Millionen“. Auch hier findet sich diese frappante Diskrepanz zwischen Tonlage und Text, die geradezu charakteristisch zu sein scheint für das zeitgenössische muttersprachliche Liedgut. „Wenn wir uns begegnen, dann leuchten wir auf wie Kometen“, behauptet der bärtige Barde, aber die Klänge, die er zur Illustration dieses interstellaren Großereignisses findet, wären auf einer herkömmlichen Beerdigung deutlich besser aufgehoben.

Ach, ich könnte ewig so weitermachen, denn wo man hinhört, wird gelitten, gejault und gejammert. Und man fragt sich unweigerlich, was diese armen Menschen denn alle so Schlimmes erlebt haben, dass sie derart im Herzen verzagt, mut-, saft- und kraftlos sind und allesamt singen wie Flasche leer. Der eine beweint so herzzerreißend wie vor ihm nur Heintje das Schicksal seiner Mutti (Max Giesinger „Und wenn sie tanzt“), andere feiern schon mit Mitte 30 wie alte Männer ein nostalgisch verklärtes Früher (Johannes Oerding „Hundert Leben“, Revolverheld „Das kann uns keiner nehmen“), und wieder andere jammern sich in Richtung eines Aus- und Aufbruchs („Wincent Weiss „Ich brauch frische Luft“; Tim Bendzko „Ich bin doch keine Maschine“; Andreas Bourani: „Auf anderen Wegen), der allein schon deshalb nicht gelingen kann, weil man dazu auch mal was kaputthauen müsste.

Und ich? Ich kann das alles nicht nur kaum ertragen, ich kann es auch überhaupt nicht unterscheiden. Denn es klingt nicht nur das eine Lied von Mark Foster wie das andere, sondern auch Andreas Bourani klingt wie Mark Foster oder Clueso, der wiederum kaum von Max Giesinger zu unterscheiden ist, den ich seinerseits eigentlich immer mit Wincent Weiss verwechsle. Vielleicht ist es auch umgekehrt. Nein, im Ernst, hören Sie mal „Kogong“ von Marc Foster und dann „Erinnerungen“ von Clueso. Das ist doch ein und dasselbe Lied!
Ein zentraler Grund für diese Ähnlichkeit und Austauschbarkeit ist dieses dräuende Trömmelchen, das in fast allen Songs geht und eine Eruption ankündigt, die dann doch nicht kommt. Es ist dieses trügerische Trömmelchen, das die Stücke, jedwedes Thema, alle Lagen und falschen Gefühle auf denselben langweiligen, getragenen Kurs bringt. Aber es ist auch diese pathetische Uniformität, die (zusammen mit den ganzen schlecht gereimten textlichen Pseudo-Tiefsinnigkeiten) diese Musik für mich als alte Frau so unerträglich macht. In meinem Alter will man nicht mehr den ganzen Tag sich selbst, das eigene Leiden und somit die eigene Bedeutsamsamkeit zelebrieren.
Statt Selbstmitleid und Selbstinszenierung braucht die aussterbende Spezies einfach mehr Selbstironie – und vor allem ein bisschen Allegro und Upbeat. Welcher jungen Stimme sollen wir alten Frauen und Musikfreunde nun also lauschen? Helene Fischer? Nun, deren Lieder sind auch nicht schön. Aber auf jeden Fall deutlich energetischer.
Großartig!!!! Helene Fischer Fan werde ich trotzdem nicht 😂
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Gut zu wissen, dass man mit dieser Meinung nicht allein ist!
Beschwere mich schon seit gefühlten ein paar Jahren wie man dieses Herumgejammere und die stetig nicht vorhandenen Reime „Musik“ nennen kann. Intellektuell anspruchslos, kraftlos und in etwa so ehrlich wie eine 3-Euro-Münze!
Bezüglich diesen Themas hat sogar Böhmermann mal ein Korn gefunden, obwohl man sonst über seine „Satire“ (oder was auch immer es sein soll) streiten kann – geschehen in dem Beitrag Eier aus Stahl: Max Giesinger und die deutsche Industriemusik | NEO MAGAZIN ROYALE.
Gerade im Punkt „Industriemusik“ sehr treffend.
(Schlimm zu wissen, dass das etwa schon fast 2 Jahre her ist und der Ist-Zustand immer noch genauso aussieht, nur noch mehr in Richtung Schlager verschoben.)
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Ja, „Menschen, Leben, Tanzen, Welt“ und der Böhmermann-Beitrag sind wirklich großartig!
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