Handbremsenfahrt auf dem falschen Dampfer

Krankenschwester, Astronautin, Lokführerin – das alles waren keine Träume, Pläne und Wünsche, die ich als Kind hegte. Eigentlich kann ich mich an keinerlei Berufswunsch erinnern. Was ich aber noch sehr gut weiß, ist, dass ich als Kind eines ganz klar vorhatte: Ich wollte rauchen, wenn ich groß bin. Und ich erinnere mich an eine mit diesem Herzenswunsch korrespondierende ernste Sorge: Ich hatte große Angst, dass es keine Zigaretten mehr geben würde, wenn ich endlich alt genug dazu wäre. Deshalb habe ich dann nicht so lange gewartet.

An meine erste Zigarette kann ich mich ebenfalls noch sehr gut erinnern. Es war ein in der ganzen Verwandtschaft wegen seiner Trunk- und Protzsucht verrufener Onkel, der beim sonntäglichen Besuchskaffee mit großen Reden, aber in reiner, lauterer Absicht eine prophylaktische Maßnahme in Angriff nahm: Das Kind sollte durch eine verfrühte Nikotingabe vor einem späteren Konsum bewahrt werden. Ich war damals neun Jahre alt. Und nachdem ich die erste Lord Extra unter den Augen meiner eigenen Mutter und einiger Tanten genüsslich verpafft und im Aschenbecher ausgedrückt hatte und mich alle erwartungsvoll anschauten, trat ich den Beweis an, dass es mir mit meinen Wünschen und Träumen ernst war: Ich erklärte, noch eine rauchen zu wollen.

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Kippenberger: Wenn nicht hier, wo dann?

Viele Dinge, die in meiner Kindheit gang und gäbe waren, kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Wenn man Ähnliches mit heutigen Eltern und Kindern nachspielen wollte, würde man vermutlich allein auf den reinen Vorschlag hin für immer aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen (außer vielleicht in Kolumbien). Dabei könnte ich inzwischen gut für den Onkel durchgehen, und es gibt auch einen mit ähnlicher Freude an verbotenem Tun ausgestatteten kleinen Neffen. Doch ich würde dem Knaben diese Lehre allein deshalb schon nicht erteilen wollen, weil ich es an der Kaffeetafel, also in geschlossenen Räumen, heutzutage mit einer E-Zigarette tun müsste. Und das würde überhaupt keinen Spaß machen!

Denn die Elektrozigarette hat dem Rauchen ja alle Eleganz, Schönheit und Würde genommen und das, was einst Glamour und große, weite Welt bedeutete, auf die schiere, traurige Sucht reduziert. Das Nikotin wird dem Abhängigen nun in liquider Reinform verabreicht, und auch konsumiert wird mit ganz anderer Haltung. In einer Kneipe, in der ich in jüngeren Jahren so manche Schachtel leer geraucht habe, hatte die Wirtin zahlreichen berühmten Old-School-Rauchern ein Denkmal gesetzt: Die Zigarette zwischen zwei nonchalant abgespreizten Fingern oder cool im Mundwinkel, von Rauchschwaden mystisch umhüllt, sah man dort auf Postern an den Wänden unter anderem Legenden wie Humphrey Bogart, Marlene Dietrich, Romy Schneider und Curt Cobain. Dass sie alle, statt lässig an einer Chesterfield, Philipp Morris oder Attika zu ziehen, an einem unförmigen Elektrogerät gelutscht hätten, ist eine Vorstellung, die mit dem Hirn eines geistig völlig gesunden Menschen nicht zu erzeugen ist.

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Einspritzpumpe, zu Anschauungszwecken ausgeliehen.

Nichtsdestotrotz tut heute eine ganze Menge Zeitgenossen nichts anderes und führt regelmäßig E-Zigaretten zum Munde, obwohl die meisten nicht einmal wissen, wie man dieses Utensil mit der Optik eines Autoersatzteils (Einspritzpumpe? Vergaser?) so halten könnte, dass es gut aussieht. Wie arme, verdruckste Süchtige stehen sie im Herbstregen an der Bushaltestelle und saugen mit gesenktem Kopf ungeschickt und nicht selten hinter der Hand verborgen an ihrem Gerät. Dabei blicken sie sich immer wieder verstohlen und unsicher um, ob sie in ihrem ästhetischen Elend auch niemand sähe und beobachte. Ganz ehrlich, mir ist noch niemand begegnet, der im Elektro-Smoking halbwegs selbstbewusst, attraktiv oder gar geheimnisvoll ausgesehen hätte. Oder andersherum: Maximal Opa mit Pfeife ist der Eindruck, den man mit E-Zigaretten erzeugen kann. Vielleicht ist also die E-Zigarette auch nur eine subversive Maßnahme, mit der man in diesen geradezu hysterisch gesundheitsorientierten Zeiten, das Rauchen weiter unattraktiv machen möchte.

Doch es ist nicht allein die Ästhetik, die mich das elektrische Rauchen so verdammen lässt. Es gibt auch ganz handfeste, rationale Gründe. Denn auch die Funktionalität der E-Zigarette ist der ihres Tabak-in-Papier-Vorläufers ja vollumfänglich unterlegen. Jenseits der bis zu den alten Indianern zurückreichenden rituellen Funktion des Tabakrauchens hatte die Zigarette im gesellschaftlichen Miteinander ja noch zahlreiche andere Aufgaben: Mit und ohne Filter ließ sich unter anderem die Zeit messen (und überbrücken), Kontakt aufnehmen und sogar Gutes tun.

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Ich könnte jederzeit wieder anfangen, ich habe alles Nötige noch im Haus.

„Hast du mal ´ne Zigarette?“ Als E-Raucher hat man praktische keine Möglichkeit mehr, in Situationen großer Not und Armut großherzig und bereitwillig den Geboten der christlichen Caritas Folge zu leisten (zumindest keine hygienische). Und auch die ernst gemeinte oder vorgeschobene Bitte um Feuer, die in den alten mechanischen Zeiten nicht nur viele schöne Stunden, sondern auch manche langjährige Ehe begründet hat, ist keine Option, die einem die postmoderne Form des Rauchens noch eröffnen würde. Denn die neuzeitliche Dampfmaschine entzündet sich ja ganz von selbst. Da sie sich noch dazu beliebig ein- und ausschalten lässt, ist mit ihr leider auch die in keinem Kalendersystem verzeichnete, aber dennoch jedermann geläufige und als Intervall auch einzigartige Maßeinheit der Zigarettenlänge hinfällig geworden.

Nein, das elektronische Rauchen ist ein unerfreuliches, herzloses, selbstbezogenes Business. Es ist noch dazu eines, dass dem allseits grassierenden Schaumschläger- und Windbeuteltum weiter Vorschub leistet. Denn während sich der ehrliche Kettenraucher von gestern noch fragt, ob man ohne Tabak (und bisweilen ja sogar auch ganz ohne Nikotin und mit Erdbeergeschmack) überhaupt noch von Rauchen sprechen kann, dreht der Highend-Schmöker und -Blender von heute schnell den Verdampfer auf Stufe 10 und vernebelt mit seinem Elektro-Smog einfach, dass bei ihm nichts als heiße Luft am Start ist, nur eine Handbremsenfahrt nach dem Motto: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass!“

Während diese schlimme Form des Aufschneidertums allseits gerne gesehen ist und staatlich auch in keinster Form reglementiert wird, werden alle aufrichtigen, geradlinigen, mutigen Tabakraucher weiter diskriminiert und gedemütigt. Für sie gilt an den meisten Orten dasselbe wie früher für Hunde: „Wir müssen leider draußen bleiben.“ Und wenn sich Humphrey Bogart oder Romy Schneider heute irgendwo mit einer Kippe ablichten lassen würden, würden sie nicht nur nie wieder eine Filmrolle bekommen, sondern nachträglich auch allen ihren bereits gedrehten Filmen herausretuschiert.

So bleibt uns echten Rauchern und Ex-Rauchern nur mehr das Traumland der Erinnerungen an vergangene nikotingoldene Zeiten, als nicht nur Helmut Schmidt, sondern jeder einfache Bürger rauchen durfte, wo er ging und stand: im Büro, im heimischen Wohnzimmer, in der Anwesenheit von Kindern, im Flugzeug, im Hörsaal, auf dem Schulhof, im Restaurant, in der Fernsehshow, ja sogar im Krankenhaus. Ich hatte (noch in diesem Jahrtausend) eine Hausärztin, die in einer schönen alten Villa wohnte und ordinierte und stets zu rauchen pflegte, während sie ihre Patienten empfing. Wo immer wir alten Menschen uns treffen, erzählen wir uns heute gerne solche Geschichten, und erst neulich berichtete mir eine Bekannte mit wehmütigem Blick von den Veränderungen in ihrem Berufsalltag: „Wo es heute beim Meeting zwischendurch fünf Minuten Raucherpause gibt, haben wir früher für die Nichtraucher zwischendurch mal fünf Minuten gelüftet.“ Wie gesagt, man kann es sich kaum mehr vorstellen.

Und natürlich kann man die Uhr auch nicht zurückdrehen. Aber jetzt, wo die besten Zeiten ganz offensichtlich vorbei sind, sollte man das Rauchen vielleicht auch einfach komplett sein und aussterben lassen, statt den schönen blauen Dunst einfach durch den langweiligen weißen Dampf zu ersetzen. Denn das ist ja auch ein bisschen so, wie einer Witwe einen Hund zu schenken. Ich selbst habe jedenfalls schon vor ein paar Jahren meine letzte Zigarette geraucht. Ein alter Kindheitstraum war bis dahin in jedem Fall hinreichend erfüllt.

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4 Kommentare zu „Handbremsenfahrt auf dem falschen Dampfer

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  1. Ja, auch ich erinnere mich gut an die Zeiten, als Rauchen einfach nur normal war und sich eher Nichtraucher rechtfertigten, warum sie diesem Laster nicht frönten. Als ich mit 15 meinen ersten richtig bösen Liebeskummer hatte, war es meine Mutter, die los rannte, um mir Zigaretten aus dem Automaten um die Ecke zu holen. Camel! Für 2 DM.

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