30 Jahre nach dem Mauerfall: „Die Gabione muss weg!“

Eigentlich könnten wir hier heute ganz schnell fertig sein. Nötig wären im Grunde nur zwei Sätze: „Das ist hässlich. Macht das weg!“ Aber mit derart glasklaren, objektiven Ansagen und Argumenten ist es meist ja nicht getan, wenn es darum geht, andere Menschen dazu zu bringen, sich von etwas zu trennen, für das sie einmal Geld ausgegeben haben. Damit der Mitmensch dem Bösen abschwört, müssen wir ihn vielmehr an der Wurzel seiner tieferen Gefühle packen und ihn recht heftig im Herzen bewegen. Es braucht, das lehrt uns seit Jahrhunderten die Dramentheorie, Furcht und Mitleid, Jammer und Schrecken, um das Publikum zu läutern und zur Katharsis zu führen. So will ich mir also Mühe geben, auf dass meine Worte zur Reinigung erst der Seele und sodann auch der Landschaft beitragen.

Der dazu nötige Schrecken ist schnell erzeugt: Hierzu reicht im Grunde ein einziger Blick auf jene Scheußlichkeit, die sich auf unserer schönen Erde derzeit schneller und flächendeckender ausbreitet als manches Unkraut, und das obwohl sie auch auf den zweiten Blick noch aussieht wie eine preiswerte Recycling-Maßnahme für Bauschrott. Repräsentanten dieser neuesten Erscheinungsform modernen Massengeschmacks stachen mir wohl schon tausenfach in die Augen, bevor Google mir heute erst ihren schaurigen Namen verriet: (Zaun-)Gabione.

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Mauerschau auf dem Gabione-Testgelände: Hier wird der Ernstfall simuliert.

Diese nicht selten mehr als  mannshohen Drahtkäfige, die mit grob behauenen Steinbrocken gefüllt sind, umgeben heute fast jedes zweite Eigenheim im Neubaugebiet auf dem Dorfe und im urbanen Vorort und verdrängen damit zunehmend Buchen-, Eiben-, Glanzmispel-, Rosen- und Buchsbaumhecken, Jägerzäune, schmiedeeiserne Handwerkskunst, gemütliche, kniehohe Steinmäuerchen sowie andere Einfriedungsmaßnahmen aus natürlichem Material und in meist menschenfreundlicherer Gestalt. Noch kenne ich Gott sei Dank niemand persönlich, der sich auf der nach oben offenen Skala potenziell möglicher Bausünden so weit vorgewagt und die Außengrenzen seiner Liegenschaften mit einem Bollwerk von derart beispielloser Hässlichkeit gesichert hätte. Trotzdem ist andernorts nicht zu übersehen, dass sich die Umsatzzahlen auf dem Steinkorb-Sektor derzeit prächtig entwickeln dürften. So prächtig, dass es einer bösen alten Frau vom Lande, durch deren Herz sich allenfalls eine sonnenwarme, moosbewachsene, von kleinen Eidechsen bevölkerte Bruchsteinmauer zieht, durchaus Kopfzerbrechen bereitet.

Die Frage, die sie sich in schlaflosen Vollmondnächten wieder und wieder stellt, lautet: Warum sind brave Bausparvertragler und ambitionierte Architektenhaus-Errichter gleichermaßen scharf auf eine bauliche Maßnahme, die aus dem trauten Eigenheim ein zweites Stuttgart-Stammheim macht, obwohl die meisten darin doch nur ein paar kleine Kinder oder Kätzchen großziehen möchten. Warum so wehrhaft und so widerwärtig? Wer soll hier ein-, was ausgesperrt werden? Und welche Botschaft sendet hier der Nächste seinem Nächsten, der seinerseits am Ende des Tages und der Woche nebenan zumeist doch auch nichts Hinterhältigeres plant, als ein bisschen zu gärtnern und zu grillen?

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Tristesse hinter Gittern: Willkommen in der Steinzeit!

Ein Grund, warum auf der Nachbarschaftsgrenze heute die Käfige in den Himmel wachsen, ist vermutlich dort zu finden, wo viele Dinge ihre Ursache haben: im Portemonnaie. Denn preiswerter als mit Hilfe von Gabionen ist der Hochsicherheitstrakt für den Hausgebrauch nicht zu errichten. Im Vergleich zu einer soliden, echten Mauer sind nämlich nicht nur die Materialkosten beim Gitterkörbchen viel geringer. Auch der Fachmann samt Wasserwaage, Maurerkelle und saftiger Rechnung wird beim Basteln mit Draht nicht gebraucht. Denn den werblichen Versprechungen der Gabione-Vertriebsexperten zufolge kann das moderne Mauerwerk auch im DIY-Alleingang errichtet werden. Weil für das spröde Gebilde dazu noch nicht einmal ein Fundament vonnöten ist, wird gleich dreifach gespart. Ja, Geiz ist geil. Aber – man kann es nicht oft genug sagen – hässlich ist er halt auch.

Kein Fundament, nur unschöner Schein: Dass in unserer oberflächlichen Zeit die potemkinsche Mauer den ebenfalls recht preisgünstigen Maschendrahtzaun abgelöst hat, muss jedoch noch andere Gründe haben als pekuniäre. Man muss kein großer Psychologe sein, um zu ahnen, dass eine derartig signalwirksame Abschottung auch mit Angst zu tun hat. My home is my castle: Früher war dies nur ein Sprichwort. Heute macht der Bürger ernst, wenn er sich in der Festung Europa nicht ausreichend sicher fühlt, und schützt seine Designer-Schrankwand, seine Alexa und seinen kinoleinwandgroßen Flachbildfernseher eben selbst gegen die marodierenden Massen. Dass die historischen Vorläufer der heutigen Gabione, die sogenannten Schanzkörbe, militärische Zwecke erfüllten und schon seit dem Mittelalter als Befestigungs- und Verteidigungsanlagen dienten, passt insofern doch bestens. (Heute würde ich allerdings eher von ästhetischer Kriegsführung sprechen.)

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Ich habe lange gezögert, das Wort zu verwenden, aber hier geht es nicht mehr anders: Augenkrebs, Augenkrebs, Augenkrebs!

Befestigungsanlagen im Wohngebiet, abweisende, undurchdringliche Mauern statt Plausch am Gartenzaun: Kommen wir final zum Mitleid. Ob solche schroffen baulichen Verhältnisse nicht auch schlimmste menschliche Kälte spiegeln und völlige soziale Isolation nach sich ziehen, ist eine Überlegung, die sich im Gabione-Land ebenso unweigerlich einstellt wie die Frage, ob den Bewohnern der Gated Community an Community überhaupt noch gelegen ist. Doch es ist nicht nur die drohende zwischenmenschliche Verarmung, die unser aller Mitleid wecken sollte. Viel schlimmer ist ja, dass die meterhohen Umzäunungen ihren Bewohnern auch die freie Sicht rauben.

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Vier Bilder in einem Beitrag, das gab es bisher noch nie.

Der Horizont etwa oder andere Regionen jenseits des eigenen Tellerrandes sind hinter all den Steinen nicht mehr zu sehen. Und so sind all die vielen Gabionen vor allem auch ein Ausdruck des Steinkorbs in den Köpfen ihrer Besitzer. Dabei sollten doch gerade wir Deutschen es eigentlich deutlich besser wissen als Donald Trump. Daher rufe ich im Frühling dieses Jahres, in dem sich gewisse historische Ereignisse zum 30. Mal jähren, allen Mitbürgern zu: Holt die Drahtschere und die Schubkarre, reißt die Gabionen ein und werft einen Blick über den Zaun in die Freiheit!

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8 Kommentare zu „30 Jahre nach dem Mauerfall: „Die Gabione muss weg!“

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  1. In die gleiche Kategorie menschen- und naturverachtender architektonischer Grausamkeiten reiht sich der jeder Klimakatastrophe Hohn sprechende steinerne Vorgarten ein, wo bis vor kurzem sich noch Grasfetzen und Sträucher, gelegentlich sogar kleine Bäumchen um den gepflasterten Weg vom Trottoir zur Haustür schlängelten.

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