Am 13. August 1999 erklärte Stefanie Maria Graf nach einer Niederlage beim WTA-Turnier in San Diego ihren sofortigen Ausstieg aus dem Profi-Tennis und beendete damit eine Tenniskarriere, die bis heute beispiellos ist. Damals war sie 30 Jahre alt, und wer rechnen kann, der ahnt: Dieses Jahr wird sie auch schon 50. „Kinder, wie die Zeit vergeht!“, möchte eine alte Frau da wieder einmal rufen und anschließend die beiden Jahrestage angemessen feiern. Doch die Jubiläumsfreude ist getrübt: „Steffi Graf: Ihr Erfolg hat sie gezeichnet“. Unter Schlagzeilen wie dieser war vor Kurzem von einem Interview mit einem US-amerikanischen Magazin zu lesen, in dem die Gräfin von den gesundheitlichen Problemen berichtete, mit denen sie ihre spektakulären Siege bezahlt hat.

Knie und Hüfte und Rücken, alles im Eimer. Von Boris Becker weiß man Ähnliches (seine deformierten Ellbogen aber sind, so spekuliert der Boulevard, allein die Folge exzessiven Pokerns). Eine solche Ballung ernsthafter Gebresten ist natürlich schlimm, und ihre Inhaber sind bedauernswert. Wer wüsste das besser als der etwas ältere Mensch. Doch gerade in Zeiten der Midlife-Inventur ist selbiger mit sich selbst und anderen nicht immer gnädig. Noch dazu neigt er in dieser Zeit mehr noch als sonst zu dem unseligen Vergleichen und dazu, rückwirkend biografisch Sinn zu stiften, das Scheitern also mithin deutend zu wenden, getrieben von dem ebenso absurden wie verzweifelten Verlangen, selbst das Falsche einst richtig gemacht zu haben (zumindest aber nicht ganz schlecht).
Dereinst in der Jugend war auch ich dem weißen Sport recht zugetan (und diese Liebe wurde durchaus erwidert). Jedoch es fehlte wieder einmal die Disziplin, und mehr noch als am Wochenende des Morgens die einen besiegen, wollte ich des Abends mit den anderen feiern. So wurde ein vielversprechendes Talent um seine Karriere und zweifelsohne auch um eine Heidenmenge Geld gebracht. Statt Ruhm und Reichtum und Weltranglistenplätzen bekam ich nur ein Studium der Germanistik und muss nun schon seit vielen Jahren ordentlich rackern, um auf dem täglich Brot manchmal auch ein bisschen Trüffelbutter zu haben.
Aber weil ich mich so auch jahrelang statt am Rothenbaum am Schreibtisch aufgehalten habe, hat noch kein Arzt je zu mir von Patella, Prolaps und Pelvis gesprochen. Und nachdem ich lange genug gewartet habe, ist es nun die alte Binse, dass gesunde Knie, ein intakter Rücken und eine schmerzfreie Hüfte nicht mit Immobilien, Pelzmänteln, Traumurlauben, Aktiendepots und Sportwagen aufzuwiegen sind, die mich im Vergleich mit Steffi und Boris vielleicht doch nicht allzu schlecht dastehen lässt (im Vergleich zu Boris fallen mir noch andere Dinge ein).
Jedoch das Allerbeste ist: Meine Tenniskarriere ist noch nicht vorbei. Ja, sie hat im Grunde gerade erst begonnen. Denn vor etwa einem Jahr habe ich meinem bis dato weitgehend sinnlosen, verfehlten Leben eine neue Richtung gegeben und mit der Schnuppermitgliedschaft im führenden Tennisclub am Ort sportlich und existenziell alles noch mal auf null gesetzt. Ich weiß, in einer ordentlichen Midlifecrisis gehört es sich eigentlich, in einem einzigartigen Moment hellsichtiger Rücksichtslosigkeit Mann, Frau und sämtliche Kinder zu verlassen und mit einem schönen jungen Menschen nach New York oder Montevideo durchzubrennen. Doch das ist offensichtlich nicht mein Weg. Ich bin einfach nach Hause zurückgekehrt.

So ähnlich jedenfalls fühlt es sich an, wenn ich heute an einem schönen Frühlings- oder Sommermorgen auf dem roten Sand ein paar Bälle spiele, während in den hohen alten Bäumen ringsum Amsel, Drossel, Fink und Star zwitschern und oben am blauen Himmel der Mäusebussard kreist. Ja, da ist auch viel Glück dabei. Doch wie in jedem Paradies dauert es auch in diesem nicht lange, bis man über die ersten Schlangen stolpert. Denn zum einen ist der Mensch im Verein nur selten alleine, und zum anderen nimmt man ja auch sich selbst überallhin mit.
Ich selbst aber habe in den letzten Jahren vor allem Mannschaftssport betrieben und dabei spät im Leben noch Erstaunliches gelernt, nämlich dass man Leute gar nicht sympathisch finden muss, um mit ihnen zusammen ebenso gewinn- wie freudebringend Fuß- und andere Bälle in ein Tor oder eine ähnliche Vorrichtung zu befördern. Ja, ich erinnere mich sogar an mehr als drei Fälle, in denen ich Mitmenschen, die ich zuvor allenfalls mittelgut leiden konnte, beim gemeinsamen Spiel richtiggehend schätzen gelernt habe (es war sogar eine Schwäbin darunter). Beim Tennis ist es eher andersherum. Tennis ist ein Ego-Sport, der einen recht schnell auch recht gut mit den Egos der anderen bekannt macht. Ich möchte mich hier nicht ausnehmen. Gleichwohl finde ich dies manchmal schwierig.
Erschwerend hinzu kommt, dass ich schon wieder den nötigen Ehrgeiz vermissen lasse, während alle anderen ringsum längst in Richtung Seniorenweltmeisterschaft trainieren. Denn im Tennis gibt es selbst für die Hochbetagtesten noch Mannschaften und Ligen und Wettbewerbe. Und so droht mein ursprünglich so schöner Plan, nun von allem Leistungsdruck befreit einfach bis ans Ende meiner Tage entspannt dem schönsten Sport der Welt zu frönen, ganz ähnlich wie der Weltfrieden letztlich an der Unabänderlichkeit der Conditio Humana zu scheitern, an dem unbestreitbaren Übel nämlich, dass der Mensch es nie leid wird, sich zu messen, den Mitmensch bis aufs Blut zu bekämpfen und ihn in einer letzten großen Demütigung niederzuringen.

Die Frage ist nun, ob ich mich diesmal dem Wettbewerb stelle und den Kampf aufnehme gegen all die vielen anderen Achtzigerjahre-Talente, die derzeit in lebensalterbedingter Ermangelung anderer Ziele einen zweiten Anlauf auf dem Center Court der Jugendträume wagen. Denn Steffi Graf und Boris Becker haben mit ihren Erfolgen vor mehr als 30 Jahren in der Generation der Babyboomer ja auch einen enormen Tennis-Boom ausgelöst, in dessen Folge sich die Zahl der Mitglieder in den deutschen Tennisvereinen in den Achtzigern sage und schreibe verdoppelt hat: von einer Million zu Anfang der Dekade auf über zwei Millionen an deren Ende. Da sind die rund zehn Ex-Hoffnungen, die allein in meinem Bekanntenkreis in den letzten zwei Jahren – weitgehend unabhängig voneinander – den Weg zurück auf den Platz gefunden haben, vermutlich nur die Spitze des Eisbergs.
Der existenzielle Zwiespalt, in dem ich mich befinde, lässt sich am besten am Beispiel meines von jeher defizitären Rückhandspiels illustrieren: Soll ich in Zukunft die neue, zeitgenössische, recht plumpe, aber sehr effektive beidhändige Killer-Rückhand trainieren in dem Bestreben, die Konkurrenz baldmöglichst vom Platz zu fegen? Oder nutze ich die zweite Chance, die mir geschenkt ist, auf andere Weise und versuche, mit der Trainerin der Herzen stattdessen an der altmodischen einhändigen Rückhand zu feilen, die, so sie gelingt, an Eleganz und Schönheit nicht zu überbieten ist? Ich neige nicht wenig zu Letzterem, denn es waren neben diesem satten und zutiefst befriedigenden Plopp eines gelungenen Schlages ja vor allem die Schönheit und Eleganz dieses Spiels, die meine Zuneigung dereinst begründeten.
Doch wenn das Leben zum zweiten Mal aufschlägt, kann es natürlich nicht nur darum gehen, Altes zu vervollkommnen oder sich zu drücken. Es ist dann auch die Zeit gekommen, Neues zu lernen und zu wagen, zum Beispiel den Weg ans Netz, vor dem ich als junger Mensch immer so viel Angst gehabt habe. Ja, vielleicht hat mich das Schicksal nur wieder auf den Sandplatz geführt, damit ich mich selbst besiege? An den Sieg über andere kann ich jedenfalls angesichts der kärglichen Preisgelder im Senilenbereich meine Restgesundheit nicht verschenken. Überdies möchte ich (ich weiß es einfach nicht besser) auch den Spaß nicht verlieren. Immerhin haben nicht alle, die nach so vielen Jahren wieder den Kontakt zu ihrer Jugendliebe suchen, so viel Glück, und Leichtigkeit und Schönheit sind noch da. Das soll man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. So erteile ich also jedwedem sportlichen Darwinismus eine Absage, wage die Utopie und habe damit zum ersten Mal in meinem Leben auch einen Plan für die Zukunft (also für den Ruhestand): Wenn alles gut geht, verbringe ich die nächsten 30 Jahre auf dem Tennisplatz, bis ich mit ungefähr 90 dann tatsächlich altersbedingt abtrete und – so wie vor 20 Jahren Stefanie Maria Graf auf ihrer Abschiedspressekonferenz – erkläre: „Sportlich habe ich alles erreicht. Jetzt bin ich offen für Neues.“
Einmaliger Zusatzservice für alle Freunde des 80er-Jahre-Damentennis:
Phranc sings M.A.R.T.I.N.A.
Wer ist die Schwäbin?
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Bine, denk mal nach!
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Mit Tennis hab ich nichts am Hut, aber das ist und bleibt ein Wahnsinns-Text! Bravo!
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Oh, vielen Dank! (Ich erröte gerade ein wenig, freue mich aber sehr, dass es jemand liest.)
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Eindeutig einhändige Rückhand – Dieses beidhändige Draufkloppen hat mit dem weißen Sport doch nix mehr zu tun. – Übrigens ist mir letztens beim Corona bedingten Gucken alter Tennis-Partien u.a. Steffis erstem Sieg in Wimbledon gegen Martina, aber auch Boris 1985er Finale noch einmal aufgefallen, dass genau „unsere“ beiden Tennishero*Innen die Anmut des Sports eigentlich begonnen haben für immer zu zerstören. Kein Vergleich zu Navratilova – Evert Jahre zuvor oder Borg – McEnroe – Connors – Vitas Gerulaitis – Guillermo Vilas. Alles ersetzt durch Bum-Bum, Aufschlag, gelegentlich genauso harten Return, von Agassi, Sampras bis Corona-Djokovic heute perfektioniert. – Zugegeben, gegen früher war alles besser spricht immerhin noch, dass Raphael Nadal auf Sand und Roger Federer auf Gras dann eben doch noch ästhetisch zu überzeugen vermögen. – Gut, dass wenigstens die böse alte Frau dem schönen Spiel mit ihrem Retro-Comeback zu altem Glanz zurück verhilft.
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