Im ZDF lief kürzlich Sonntagsabends eine isländische Krimiserie, die ich eigentlich gern gesehen hätte. Aber irgendwann gegen Ende der zweiten Folge bin ich ausgestiegen, weil ich einfach nicht mitkam: Ich konnte die handelnden Personen partout nicht auseinanderhalten. Es waren überwiegend Männer, und egal, ob sie Island-Pulli trugen oder Polizeiuniform, allen wuchs ein wilder, nivellierender Bart im Gesicht. Es war, ungelogen, kein einziger glatt rasierter Herr dabei.
Damit treten die Schauspieler in Island natürlich auch den Beweis an, dass sie die Insellage keineswegs von den weltweiten Trends abschneidet. Denn ob in Reykjavík, New York oder Bad Mergentheim, egal, wo man ist, seit ein paar Jahren sieht man auf der Straße kaum mehr einen Mann unter 40, der nicht nach Kräften wachsen ließe und kultivierte, was ihm an Gesichtshaar gegeben ist (oder eben auch nicht). Das Ergebnis heißt heute gemeinhin Hipster-Bart. Alle, die nicht mehr im hipsten Alter sind, lassen sich davon freilich nicht täuschen, denn sie kennen noch den Namen, das Konzept und das Image „Vollbart“.

Mir war zu viel Bart schon immer suspekt. Ein erster Grund dafür war sicher jener softe vollbärtige Lehrer und Berufspädagoge mit den weichen Lippen, der sich in den späten Siebzigerjahren den immer so eklig an uns Schüler ranwanzte. Ein anderer ist die nicht von der Hand zu weisende Beobachtung, dass wuchernde Vollbärte in Männergesichtern sehr oft auch mit religiösen Extremen (z. B. Dschihadisten, Rastafaris, Amische oder orthodoxe Juden) und damit in der Regel auch mit extrem rückständigen Frauenbildern einhergehen. Und natürlich habe ich wie so oft einfach auch rein ästhetische Bedenken. Denn es stimmt ja nicht, dass einen schönen Menschen nichts entstellt.
In jedem Fall macht so ein Vollbart im Gesicht nicht nur unnötig alt und so unsexy altväterlich, sondern ein flächendeckendes Gesichtsfell beraubt seinen Träger oft auch in relevantem Maße der individuellen Physiognomie. Für manche mag diese Möglichkeit zur Flucht in den Schutzraum der Typisierung einen echten Mehrwert bedeuten, aber auch bei allen anderen erweitert der frei sprießende Bartwuchs das optische Spektrum zumeist vor allem in Richtung Gartenzwerg. (Ein stimmiges Bild entsteht so nur in ganz wenigen Ausnahmefällen wie z. B. bei Ed Sheeran, dessen Hobbit-Stimme ja ganz hervorragend zu allem Übrigen passt.) Kurz, so ein Bart entschönt die Schönen und macht die Scheußlichen noch scheußlicher. Doch es gibt noch einen weiteren, viel gravierenderen Grund, aus dem ich allen Fehlgeleiteten eine baldige Nassrasur ans Herz legen würde.
„Bärte sind dreckiger als Hundefell!“ Mit dieser schönen Schlagzeile weckte neulich eine kleine Notiz auf der GMX-Startseite mein Interesse. Unter dieser Überschrift publiziert wurden die Ergebnisse einer Studie, die unlängst eine Schweizer Klinik durchgeführt hatte. Die Eidgenossen hatten – aus welchem Grund auch immer – Fellproben von Hunden und solche von Bartträgern auf Keime untersucht. Im Hundefell waren die Forscher in sage und schreibe 75 Prozent der Fälle fündig geworden. Allein: Beim untersuchten Humanmaterial waren es 100 Prozent! Es waren also ausnahmslos alle Bärte mit Keimen verseucht. Doch damit nicht genug: Bei den Herren, so las ich mit Entsetzen, waren anders als bei den Hunden auch solche Keime dabei, die ein Gesundheitsrisiko darstellten. OMG! (Als Frau sollte man folglich vermutlich lieber einen gut gepflegten Hund küssen als einen Bartträger.)

Nun ist es eine schöne Tradition, dass sich die Alten über die Haartracht der Jungen aufregen, und ich reihe mich hier natürlich gerne ein. Interessanter als Modetrends oder mein Ekel darüber ist aber selbstverständlich die Frage, was uns das Verhältnis der jungen Menschen zu ihrem Haar – auf dem Kopf, aber auch am Körper – eigentlich über ihre geistig-seelische Verfasstheit verrät. Denn es ist ja nicht zu übersehen, dass die jungen Männer heute geradezu besessen sind von ihren Haaren und deren Pflege. Ja, wenn ich die Entwicklungen in der lokalen Ladenlandschaft betrachte, so scheint es, als hätten sich die Geschlechterverhältnisse, was den Friseurbesuch angeht, heute komplett umgedreht. Denn wo immer in meinem Quartier ein kleines Ladengeschäft schließt, wird es drei Tage später als Barber-Shop wiedereröffnet, als ein Friseursalon also, dessen Angebot sich ausschließlich an Männer richtet. In einem Radius von 500 Metern um mein Haus finden sich im Minimum zehn Herrenfriseure. Eine Ursache für diese florierenden Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt für Coiffeure ist sicher auch die Migration. Aber: Auch die vielen Hipster-Bärte wollen natürlich gepflegt sein.
Und irgendwo müssen sich die Jungmänner aller Nationalitäten ja auch diesen unvermeidlichen Undercut verpassen lassen, den heute praktisch ein jeder trägt, auf dessen Haupt der naturbedingte Kahlschlag noch nicht eingesetzt hat. Dazu gehören auch 95 Prozent aller Bundesligaspieler und weltweiten Profifußballer. (So perfekt frisiert wie heute auf dem Rasenplatz aufgelaufen wird, ist es eigentlich ein Wunder, dass dieses enorme Werbekapital bis dato ungehoben ist: „Maracanã-Stadion, Regen, die Frisur sitzt.“) Ohne rasierte Schläfenbeine jedenfalls geht es derzeit im Profifußball und andernorts für echte Männer nicht. In sozialen Brennpunkten sieht man bisweilen schon Dreijährige, die dergestalt geschoren und gescheitelt von ihren stylebewussten Eltern stolz an der Hand (vor-)geführt werden. Der Figaro spricht angesichts des aktuellen Einheitsschnitts auch von „Fade Cut“. Doch auch hier muss man sich vom Namen nicht täuschen lassen. Mich jedenfalls erinnert das Ganze sowohl von der scheinbar alternativlosen Uniformität als auch vom Style her vor allem an die gute alte HJ-Frisur. Ich weiß, das ist böse, aber wir brauchen das für die Argumentation.

Lange Haare sind, so sagt man, das Zeichen des freien Mannes. Das beginnt schon bei Simson in der Bibel, dessen Kraft in seinen Haaren lag und den man daher schor, um ihn zu entmachten. Glieder in dieser jahrhundertalten Assoziationskette von Freiheit, Abenteuer und ungestutztem Haupthaar sind aber zum Beispiel auch Indianer, Hippies (und das dazugehörige Musical „Hair“) sowie zahllose Rockstars. Ihnen unversöhnlich gegenüber stehen alle Anhänger von Zucht und Ordnung und Institutionen wie die Bundeswehr und andere Armeen, bei denen es gemeinhin eine eigene Dienstvorschrift zum Thema Frisur gibt, im Volksmund schlicht „Haarerlass“ genannt. Wer einmal den Wikipedia-Artikel zu diesem Thema gelesen hat, der weiß: Das Haupthaar des Menschen ist mitnichten nur ein Schmuck zur Steigerung der allgemeinen Paarungschancen, und die Frage nach seiner Länge taugt bis heute zum Politikum.
Die Frauen sind hier nicht ausgenommen. Bei ihnen ist es allerdings genau umgekehrt. Hier lautet die Gleichung: Je kürzer das Haar, desto freier die Frau. Diese Geschichte ist jedoch noch jung, sie begann erst im letzten Jahrhundert und hier vor allem in den Siebzigerjahren, als man BHs verbrannte, sich die langen Haare und die alten Zöpfe abschnitt, um sich so von überkommenen Weiblichkeitszwängen und suppressiven Schönheitsidealen zu befreien. Doch so wie die jungen Männer in diesen unsicheren Zeiten mit ihren Bärten die Merkmale kerniger Männlichkeit kultivieren, tragen heute junge Mädchen und Frauen fast ausnahmslos lange Haare und zementieren damit auch ihrerseits längst überwunden geglaubte Geschlechterstereotype. In der Altersgruppe der 5- bis 40-Jährigen jedenfalls ist heute eher ein Dirndl samt Flechtfrisur anzutreffen als ein patenter Kurzhaarschnitt.
Die Obsession mit Haaren, die in der jungen Generation zu beobachten ist, setzt sich im Übrigen auch unterhalb des Kopfes fort. Was die Körperbehaarung angeht, so arbeiten beide Geschlechter allerdings in die gleiche Richtung: Es wird gerodet und rasiert, epiliert und weggelasert, was das Zeug hält. Denn Schamhaare haben inzwischen offensichtlich mit Schämen zu tun. An jenen geheimnisvollen Stellen, an denen man in meiner lange zurückliegenden Jugend sehnsüchtig auf Haarwuchs wartete und die Fortschritte bei den anderen beim Duschen nach dem Schwimmen mit schielenden Blicken neidisch verfolgte, jedenfalls rasiert der junge Mensch heute so lange und gründlich, bis er wieder aussieht wie vor der Pubertät und damit auch dem aktuellen Sexual-Ideal entspricht: Kleinkind-Look. (Wann immer ich als erwachsener Mensch in der Umkleide nach dem Sport dieser Pädo-Optik ansichtig werde, macht sich große Verstörung in mir breit.)
Ich möchte hier nicht weiter ins Detail gehen, aber festgehalten werden muss doch, dass sich in all diesen Modetrends auch seltsame Konzepte offenbaren. Unfreie, (Garten-)Zwerge und Kinder: Was ist zu halten von einer Generation, die mit ihrem Style derart umfassende Signale der Unmündigkeit sendet? Ist klein und machtlos das Selbstverständnis, das aus diesen global krisenhaften Zeiten resultiert? Wenn man nichts mehr im Griff hat, kann man sich immer noch die Haare trimmen? Ich hoffe sehr, dass es in Wirklichkeit ganz anders ist. Denn es ist am Ende ja vielleicht diese Generation, die unsere Welt retten muss.
Liebe Birgit, schönste Fahrt zur Arbeit seit Langem gehabt wegen deines neuen Artikels! Großartig!!! Scharf, klug, satirisch – bin aus dem breiten Grinsen gar nicht mehr rausgekommen! Danke!!!!
Von meinem iPhone gesendet
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Ich liebe sehr sogar
Mein langes Haar!
Es darf nicht nur in den Kragen ragen.
Alles schöne Haar war
schulterlang und länger!
Klar, Mum
Nicht wahr, Daddy?
Wunderbar ist so langes
HAAAAAAAAAAAAAAR!
Lass‘ es leben,
Gott hat’s mir gegeben,
mein Haar!
Das hab ich mit 10 oder so immer gehoert. Meine Eltern waren auf Hochzeitsreise in München. Das Hair Musical in deutsch stand auf dem Programm. Sie ham ne Platte mitgebraucht und Jahre später wurde ich darum zum Hippie-Mädchen.
Toll geschrieben, wie immer!
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