Ich hatte eine ganz normale, durchschnittlich unglückliche Kindheit, mit allem, was in den Siebzigerjahren auf dem Lande so dazugehörte: Klicker spielen im Frühjahr, endlose Sommer im Freibad, Kartoffelfeuer im Herbst und Schlittenfahren am Berghang im Winter. Die meiste Zeit verbrachte ich draußen zusammen mit anderen Kindern und ohne dass ein Erwachsener je dabei oder auch nur in Rufweite gewesen wäre. Ganze Nachmittage waren wir schon im Grundschulalter ganz allein in allen Winkeln des Dorfes sowie darüber hinaus auch in Wald und Flur unterwegs, und das alles nicht selten auch abends, wenn es schon dunkel war (im Hellen macht so ein Feuerchen ja keinen Spaß). Die Sommernachmittage verbrachten wir normalerweise am und im Rhein, und mehr als einmal bin ich – mit dem Wissen meiner Eltern, aber nicht in deren werter Gegenwart – durch den ganzen großen, reißenden Strom auf die andere Seite und zurück geschwommen. Kurz, ich genoss in meiner Kindheit eine Freiheit, wie sie heute allenfalls noch Landstreichern zuteilwird. Bei Kindern heute würden solche Zustände heute vermutlich sofort das Jugendamt auf den Plan rufen, und könnte selbiges auf Zeitreise gehen, würde es meinen Altvorderen das Sorgerecht entzogen haben, noch bevor ich das sechste Lebensjahr vollendet hätte.

Glücklicherweise ist es bis heute niemandem gelungen, das Raum-Zeit-Kontinuum zu überwinden. Nichtsdestotrotz beobachte ich in der Zukunft gewisse Rückschritte. Denn Kindsein ist meiner über 50-jährigen Expertise zufolge heute nur noch der halbe Spaß (wenn überhaupt). Denn die Freiheit ist straffer Organisation und totaler Kontrolle gewichen. Ich kenne Kindergartenkinder, die haben einen Terminkalender wie in meiner Generation nur Manager, und Zwölfjährige, die noch im Bett der Eltern schlafen und in ihrem ganzen Leben noch nicht länger als zwei Stunden ohne erwachsene Begleitung verbracht haben. Das liegt auch daran, dass Kinder inzwischen wegen der OGTS eigentlich den ganzen Tag in der Schule verbringen müssen, eingehegt und eingefriedet. Einfach „rausgehen, spielen“ gibt es praktisch nicht mehr, denn auch in der raren Freizeit wird gezielt elterlich interveniert, optimiert und gecoacht: Nicht wenige sprechen deshalb schon mit fünf Jahren fließend Chinesisch, üben sich bereits mit drei in der Hockeymannschaft in Disziplin und Wettbewerb und/oder haben mit ihrer kleinen Violine schon zehnfach bei „Jugend musiziert“ abgeräumt. Viele haben auch den Kinderpsychologen schon kennengelernt. Denn es ist ja nichts so gut, dass es nicht noch verbessert werden könnte.
Doch wie ich mich gerade so schön in Rage schreiben will, stelle ich mit Erschrecken fest, dass ich schon wieder hier stehe (bzw. sitze) und die schlimme Seniorenleier anstimme, dass nämlich früher alles besser war (was es natürlich war). Anders als manche frühere Generation beklage ich der Abwechslung halber aber heute einmal nicht eine verlorene Zucht und Ordnung, sondern das fortschreitende Verschwinden von Freiheit, Abenteuer und Übermut. Und wo ich dies alles hier und heute nicht mehr finde, suche ich im Traumland der Erinnerungen nach fast vergessenem, unwiederbringlichem Kindheitsglück und werde überreich fündig. Denn es gab ja viele gute und schöne Gründe für das eingangs angedeutete Heimkind-Schicksal, das heute vermutlich meiner ganzen Generation drohen würde.
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll mit den vielen Verletzungen der Aufsichtspflicht, die sich meine im Großen und Ganzen durchschnittlichen Mittelstandseltern in jenen goldenen Siebzigern haben zuschulden kommen lassen. Denn obwohl meine Mutter wie die meisten Damen dieser Zeit Hausfrau und damit zumeist dem Wortsinn und der Aufgabe gehorchend auch zu Hause war, helikopterte sie nicht dauernd um uns herum. Schon zum Kindergarten fuhren wir allein mit dem Rädchen, ab dem späten Grundschulalter badeten wir erwähntermaßen regelmäßig unbeaufsichtigt im Rhein, wie wir überhaupt bei schönem Wetter eigentlich ganzjährig draußen und alleine unterwegs waren und die Eltern häufig über Stunden nicht mal eine ungefähre Ahnung hatten, wo wir uns gerade befanden und ob wir noch am Leben waren. Und ich bin mit diesem Schicksal der Verwahrlosung nicht allein.
Eine der schönsten Geschichten darüber, wie es Eltern in dieser Zeit noch gelang, die Existenz ihrer Kinder zu vergessen und auch selbst ein schönes Leben zu führen, erzählt meine Freundin Anke. Sie berichtet in geselliger Runde gerne davon, dass Mutter und Vater (Letzterer immerhin ein Arzt) sie einmal während einer Party im Elternhaus im Kinderwagen auf dem Balkon geparkt hätten, freilich zunächst nur zum Schutz vor Lärm und Zigarettenrauch. Dann aber blieb der Wagen samt kaum einjährigem Inhalt dort aus Versehen die ganze Nacht stehen. Auch bei uns zu Hause war es ähnlich. Als 1973 der allgemeinen Ölkrise mit autofreien Sonntagen begegnet wurde, fuhren meine Eltern einfach abends mit dem Zug ins Theater – und ließen meinen Bruder und mich, sieben und acht Jahre alt, ganz allein zu Hause. (Mit dem Auto hätten sie dasselbe gemacht, aber dank der historischen Koinzidenz lässt es sich so exakt datieren.)

Doch wenn die Erwachsenen zu Hause blieben und nach Art der Zeit die Aufsicht führten, wurde es nicht unbedingt besser. Denn absichtsvolle Kindeswohlgefährdung war ja ebenfalls fester Bestandteil des damaligen Erziehungsprogramms. Ich habe hier bereits an anderer Stelle über die Umstände berichtet, unter denen ich im Alter von neun Jahren meine erste Zigarette am sonntäglichen Kaffeetisch rauchte. Denn man war mit den Substanzen nicht kleinlich in jener Zeit, als das Schlehenfeuer noch loderte und Lord Extra „Genuss im Stil der neuen Zeit“ versprach. Kaffee etwa, den Eltern noch gut als Nachkriegswährung bekannt, war immer noch ein Luxusgut, das man als solches natürlich auch den Kindern nicht vorenthalten wollte. Meine Cousine Monika und auch meinem Bruder, deren kindliche Geschmacksnerven das bittere Heißgetränk offenbar genau traf, durften schon lange vor Erreichen der Pubertät täglich dem Koffein zusprechen. Mit dem Alkohol war es praktisch nicht anders. Im Elternhaus meiner Freundin Tanja zum Beispiel war es guter Feiertagsbrauch, schon den Kleinsten an Weihnachten, bei Geburtstagen oder anderen festlichen Anlässen auch ein Mini-Gläschen Sekt oder Wein zum Anstoßen einzuschenken. Bei uns selbst gab es an Silvester und zum „Grand Prix Eurovision de la Chanson“, wie das Ereignis damals noch ganz mondän hieß und auch behandelt wurde, zur Feier des Tages auch für die Kinder ein oder zwei Gläschen Bowle (die wegen der Verdünnung mit Saft irgendwie nicht als richtiger Alkohol zählte).

Gerne erinnere ich mich auch daran, wie wir in den Sommerferien regelmäßig ins Schwimmbad kutschiert wurden: In einen gelben R4 oder einen orangen Opel Kadett, in dem noch keine Sicherheitsgurte die Plätze rationierten, wurden rekordverdächtige zehn Kinder gepackt, zwei davon auf dem Beifahrersitz, eines dort im Fußraum, das Gros auf der Rückbank und zwei stets im Kofferraum (das waren natürlich die begehrtesten Plätze). Vor dem Schwimmbad wurden wir dann am Morgen abgeladen und dortselbst erst zu einer verabredeten Uhrzeit am Abend wieder abgeholt. (Keinerlei telefonischer Kontakt dazwischen, und für die Aufsicht war allein der Bademeister zuständig.) Freizeitunfälle und andere Unwägbarkeiten aus dem reinen Reich des Konjunktivs waren ganz eindeutig nichts, was im Denken meiner Eltern weiterführend verankert gewesen wäre. Ein Grund dafür liegt auf der Hand: Die beiden hatten den Krieg erlebt, da hat man vor dem Schwimmbad einfach nicht mehr so viel Angst.
Nimmt man nun aber die Angst als ein mögliches Erklärungsmodell für die elterliche Sorge und Erziehung, dann hilft einem das sicher auch, die Zustände in der Jetztzeit besser zu verstehen, in der Kinderarbeit verboten ist, ein Rund-um-die-Uhr-Trainingsprogramm dagegen nicht. Man kann dann allerdings auch kaum anders, als zu insinuieren, dass unter den Eltern heute eine unfassbare große Angst regiert, der offensichtlich nur mit Verboten und Kontrolle Herr zu werden ist. Wovor alle so große Angst haben, weiß ich nicht. Ich kann hier nur mutmaßen. Vermutlich hat es mit dem Besten zu tun, dass durch sämtliche Jahrhunderte hinweg alle halbwegs vernünftigen Eltern für ihre Kinder wollen. Was das Beste ist, allerdings unterliegt dem Wandel der Zeiten. Heute spielen wahrscheinlich der bis in die privatesten Verhältnisse ausgedehnte Wettbewerb, das dauernde Sich-Messen, aber auch die verschärften Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt sowie damit einhergehend die Angst vor sozialem Abstieg eine nicht unerhebliche Rolle. Und insofern kann man den Tiger-Eltern der Jetztzeit dann natürlich auch nur recht geben: Wenn man den Nachwuchs bestmöglich auf die wiedergekehrten 50-Stunden-Arbeitswochen der Zukunft vorbereiten möchte und darauf, diese ebenso geduldig und widerspruchslos zu ertragen wie alle anderen Anmaßungen und Zumutungen des ruhe-, rast- und sinnlosen Lebens in spätkapitalistischen Zeiten, dann kommt man mit Pippi Langstrumpf nicht allzu weit. Dann braucht es die Prusseliese.
PS: In der Entstehungsphase trug dieser Text den Arbeitstitel „Liste der unvorstellbaren Dinge“. Nun ist es doch keine Liste geworden, obwohl ich sicher bin, dass es noch zahlreiche ähnliche Geschichten und Beispiele gibt für Dinge, die in meiner Kindheit noch völlig normal waren, inzwischen aber gänzlich unvorstellbar geworden sind. Daher rufe ich ausdrücklich dazu auf: Wer selbst von ähnlichen Erlebnissen mit lange vergangener pädagogischer Sorglosigkeit zu berichten weiß, möge dies bitte unbedingt tun!
Das alles kenn ich genau so. Und diese Freiheit war GEIL! HOCH DIE TASSEN!!!
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Großartig!!!!! Richtig, richtig großartig! Da geht mir Herz und Hirn auf! Ich drück dich!
Von meinem iPhone gesendet
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Hoch die tassen! Wunderbare kirsten. Freu mich jetzt schon auf den spass den wir bald haben werd3n. JiJiiipppiieeh 💜💙💚💛🧡❤
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So war’s! Eltern spielten in meinem (Land)Leben eine ziemlich untergeordnete Rolle. Und doch waren sie da und jeden Mittag stand was Warmes auf dem Tisch! Ich weiß übrigens bis heute nicht, woher meine Mutter gewusst hat, dass ich gerade (als Bandencheffin) mein Dreirad im Fluss versenkte und mich die Fluten mitrissen. In diesem Augenblick jedenfalls spurtete sie den abgelegenen Trampelpfad runter, um mich an den Haaren rauszufischen. Wahrscheinlich mütterlicher Instinkt. Sie musste nicht mal sagen: Mach das bloß nicht mehr! Der Schreck war eh groß genug und irgendwie wussten wir eh instinktiv, was verboten war und was noch ging. Es war übrigens das einzige Mal, dass ich meine Muttter hab laufen sehen und sie hat mir nie verraten, woher sie von meinem Unglück wusste…
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Liebe Ala, vielen Dank für diese schöne Geschichte! Die Umstände der wundersamen Errettung haben das Zeug zu einem echten Mysterium. Toll!
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Schule. Aus. Nach hause und in „spielkleidung“ geschmissen. Die durfte auch kaputt gehen und scheisse dreckig werden. Ich hab einen loechrigene st. Pauli pulli und ne abgeratze hose, die erfuellen noch steds den selben zweck bei so diy hippie, punk “ man weiss nie wo es endet“ partys. Ich glaub das wuerd ich gerne bei der hochzeit tragen. Warum? Weils die besten kleidungsstuecke sind
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Ihr Text hat mich, Jahrgang 1958, sehr angesprochen und gleich Erinnerungen geweckt: Ich war vielleicht fünf Jahre alt und mit älteren Kindern Äpfel „holen“ auf einer Streuobstwiese. Mir war gar nicht bewusst, etwas Unrechtmäßiges zu tun. Als ein „Feldschütz“ laut schimpfend auftauchte und auch noch mit seinem Gewehr in die Luft schoss, rannten wir alle panisch nach Hause. Dort erzählte ich meiner Mutter atemlos von meinem Erlebnis. Sie nahm die kleinen Äpfel aus meiner Schürzentasche und ihr einziger Kommentar war: „Die sind ja noch ganz grün!“
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Liebe Bernadett, vielen Dank für Ihre schöne Geschichte! Obst und Nüsse hat man als Kind ja immer viel zu früh vom Baum gepflückt (und auch nicht immer vom eigenen).
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