United Colors of Ausbeutung: Auf Shopping-Tour bei den Primaten

Ob früher „Das Haus am Eaton Place“ oder heute „Downton Abbey“ und „The Crown“: Ich konnte mit diesen ganzen britischen Adels- und Society-Serien noch nie etwas anfangen. Das Einzige, was ich dabei durch alle Zeiten mit Faszination und Schrecken betrachtet habe, ist die Rolle der Dienerschaft. Was mich fesselt, sind Fragen wie die nach der psychischen, emotionalen und sozialen Verfasstheit von Menschen, die sich beim Anlegen des Nachthemds helfen lassen, ohne sich auch nur im Geringsten über die Anwesenheit einer fremden Person in dieser intimen Situation zu wundern oder sich womöglich daran zu stören. Die Überzeugung, Hilfe beim An- und Auskleiden zu benötigen, bzw. die Selbstverständlichkeit, mit der der gesunde erwachsene Blaublütler solche Dienstleistungen in Anspruch nimmt, ist etwas was ich in meiner proletarischen Seele selbst unter Aufbietung aller vorhandenen Geisteskraft nicht wecken kann. Es wohnt einfach nicht in mir.

Die seltsamen Sitten und Verhältnisse in der Aristokratie hat man früher gerne als dekadent bezeichnet, und gerade junge, revolutionäre Menschen fühlten sich davon oft abgestoßen. Dies hat sich meiner Beobachtung nach grundlegend geändert. Heute wollen auch die meisten Bürgerlichen offensichtlich nichts lieber, als auch einmal bedient zu werden und das Personal ein bisschen springen zu lassen. Nicht anders jedenfalls kann ich mir diesen Boom erklären, den gerade all die neuen Lieferdienste in meiner Stadt erleben. Seit zwei, drei Wochen prangen auf jeder Plakatwand und sämtlichen Litfaßsäulen in Pink die durchaus originell formulierten Werbeversprechen von Flink.

Sich einmal am Tag etwas Ordentliches anziehen, das Haus verlassen und beim Einkaufen andere Menschen treffen: Will man einsamen Großstadtseelen nun alles nehmen?

Im Sommer noch luden im gleichen Umfang an denselben Stellen die kryptischen Botschaften der schwarzen Konkurrenz zum Entschlüsseln ein: „2021 in a nutshell.“ Ich habe bis heute nicht verstanden, was die Gorillas mir damit sagen wollten. Aber ich kann doch sehr gut sehen, dass die Liefer-Sklaven in Pink, Schwarz und Orange (Lieferando haben wir natürlich auch) seit einiger Zeit in den abendlichen Stoßzeiten auf den Radwegen geradezu kollidieren. In der Innenstadt gab es schon erste Beschwerden über das Gorilla-Aufkommen in der Fußgängerzone. Das Angebot, das Einkaufen lieber dem Personal zu überlassen, wird also ganz offensichtlich gut und gerne angenommen.

Dass mir das nicht gefällt, liegt auf der Hand. Denn ich bin alt, und alt ist ja das Gegenteil von neu, die Opposition also. Manchmal bin ich dennoch selbst ganz erschrocken, dass Innovationen mit mir so gar nicht mehr zu machen sind. (Selbst angesichts der guten alternativen Windenergiequellen denke ich immer nur voll Wehmut zurück an die einstige Idylle und Schönheit der Landschaft.) Nun also dieser hippe Einkaufsservice für die vielen jungen FDP-Wähler: In versprochenen zehn Minuten bringen einem die flinken Start-up-Domestiken am Abend auch nach Ladenschluss die Chips auf Sofa. Dass das ein herber Schlag ins Kontor ist für Legionen von Eltern, die dem Nachwuchs vom Kleinkindalter an in jahrelanger, mühevoller Erziehungsarbeit einen halbwegs stabilen Bedürfnisaufschub antrainiert haben, wirft schon ein kleines Schlaglicht auf die subversive Power der neuen Shopping-Offensive.

Weitaus heimtückischer allerdings erscheint mir, dass die dunklen Kräfte des monopolistischen Online-Kapitalismus mit diesen Diener-Diensten nun auch noch auf das alltägliche menschliche Einkaufshandeln zielen und noch einmal heftiger an den Grundfesten menschlicher Kommunikation und Handelstätigkeit rütteln: an der Agora nämlich, am Marktplatz als Ort der Zusammenkunft und des Miteinanders. Das böse Werk, das die laden- und gestaltlosen Groß-Händler Amazon, Zalando und Co. begonnen haben, setzen die Lebensmittel-Lakaien nun final und folgerichtig fort.

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Ich kann mir nicht helfen: Mit derselben Farb- und Bildwelt könnte die Polizei auch vor Einbrechern warnen.

Leider lässt der junge, moderne Mensch auch sie nur allzu gern gewähren. Denn einkaufen will er natürlich, aber einkaufen gehen eben nicht mehr. Nicht nur der Konsum wird damit immer passiver. Ob aus dieser neuen Unlust, sich selbstständig sowohl mit Lebensmitteln als auch mit warmen Gerichten zu versorgen, irgendwann auch die Unfähigkeit dazu wird, ist nur eine Frage, die sich hier stellt. Eine andere ist, ob Faulheit, besonderer Fleiß oder Angst die Ursache dafür ist. Wenn ich die vielen jungen, adipösen Männer auf den E-Rollern sehe, tendiere ich manchmal zu Ersterem. Andererseits könnte es aber auch genau umgekehrt sein, und alle haben vor lauter Arbeit (und Binge-Netflix-Watching) einfach keine Zeit mehr zum Einkaufen.

Gleichzeitig verwundert es in den Zeiten von Corona und Homeoffice aber natürlich auch nicht, dass der verunsicherte Einzelne mehr und mehr zum Stubenhocker mutiert und aus Angst vor Ansteckung dem Mitbürger nicht mehr begegnen will, mithin also eine echte Agoraphobie entwickelt. Insofern profitieren die flinken Pinken und Primaten sicher auch von der Stimmung der Zeit. (Sollte bei Rewe und Edeka demnächst 2G gelten, steht sicher auch ein ordentlicher Kundenzuwachs vonseiten der Querdenker und Impfgegner zu erwarten.) Außen vor bleiben dagegen vermutlich die Einzigen, deren Bedürfnisse die Existenz dieser Versorgungsdienstleistung wirklich zu einem Segen machen könnten, die alten Kranken und Siechen. Leider aber wird die Dienerschaft 2.0 nicht mehr mit dem Glöckchen herbeigeklingelt, sondern per App einbestellt. Das ist eine Herausforderung, die die meisten über 80-Jährigen nicht mehr annehmen.

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Just heute Mittag an der Ampel.

So kommt das moderne Essen auf Rädern vorwiegend zu den Jungen, die ich – und da schließt sich der Kreis – auch gerne einmal nach ihrer psychischen, emotionalen und sozialen Verfasstheit befragen möchte. Denn dass heute jeder Honk mal eben nach Futter klingeln kann (und sich alle Anbieter von auf Botendiensten basierenden Leistungen in kürzester Zeit den Arsch vergolden), ist ja nur möglich, weil es in diesem Land inzwischen genug arme Seelen gibt, die dem Schicksal schon dafür danken, dass sie für einen Hungerlohn und unter miesen Arbeitsbedingungen bei Wind und Wetter, Tag und Nacht mit schweren schwarzen, pinken und orangen Koffern auf dem krummen Rücken durch die (immerhin bürgerkriegsfreie) Gegend radeln dürfen. Ausgebeutet wird hier ja, vor allem die Notlage des (migrantischen) Mitmenschs. Wollte man, dass einem ausschließlich deutsche Muttersprachler die Chips aufs Sofa bringen, sähe es eventuell für die schlauen Start-up-Freunde und ihre Couchpotato-Klientel nicht so gut aus.

Ein soziales Gefälle war zu allen Zeiten Voraussetzung für die Existenz von Dienerschaft und verwandten Dienst-Leistungen. Wenn man früher andere für sich arbeiten lassen wollte, musste man es sich allerdings auch wirklich leisten können. Ich erinnere mich noch gut an meinen letzten schönen runden Geburtstag, als ich – im dritten Stock wohnend – in einem kleinen Anflug von Großmannssucht dachte, dass dieses Jahr die Getränke vielleicht gebracht werden können. Ich telefonierte in entsprechender Absicht mit dem führenden Getränkeservice am Ort. Dort kostete der Kasten Bier einige deutliche Euro mehr als im Supermarkt. Ferner kam auch noch ein Etagengeld von 1,50 Euro pro Kasten und Stockwerk hinzu. Es waren sage und schreibe 120 Euro, die ich dadurch gespart habe, dass ich am Ende selbst zu Rewe gefahren bin und die Kisten später eigenhändig ins dritte OG hochgeschleppt habe. 120 Euro für ca. zwei Stunden schwere Arbeit: Bekämen all die vielen Fahrrad-Kulis und -Kuriere da draußen einen ähnlichen Stundenlohn, ich müsste ihnen auf der Straße nicht mehr so mitleidig hinterherschauen.

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Das schaffst du auch: Alles eigenhändig eingekauft!

4 Antworten auf „United Colors of Ausbeutung: Auf Shopping-Tour bei den Primaten

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  1. Bereits gestern Morgen um kurz nach halb acht überholte mich in der Friedrichstraße ein Gorilla. Was sind das für Menschen, die um diese Zeit schon deren Dienste in Anspruch nehmen?

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    1. Ja, das ist die Frage! Und es ist wirklich unglaublich, wie viele Kuriere man in einer so kleinen Stadt wie Bonn inzwischen schon jeden Tag auf den Straßen sieht.

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