Zu den beliebtesten Orten im Zoo, so hört man immer wieder, gehört das Affenhaus. Es ist vermutlich die Beobachtung, wie so nah verwandte Arten völlig unverstellt agieren, die den Aufenthalt dort für den Mensch so faszinierend macht. Aus praktisch denselben Gründen teleportiere ich mich jedes Jahr im kalten, leeren Januar zwei Wochen lang ins Dschungelcamp und verfolge allabendlich mit allergrößtem Interesse die gruppendynamischen Entwicklungen unter zehn bis zwölf mir zumeist völlig unbekannten Personen. Wenn es nach mir ginge, könnten sie diese ganzen Insekten-, Unterwasser- und Fallschirm-Action auch weglassen, meine Vorlieben werden am besten getroffen, wenn nachts am Lagerfeuer Nähkästchen und Beichtstühle geöffnet werden oder beim Toilettengang ein bisschen intrigiert wird. Ob in trauter Zweisamkeit am Fluss oder am Dschungeltelefon ganz allein und direkt in die Kamera: Auch dieses Jahr wird mit Offenbarungen nicht gegeizt. Harald Glööckler berichtete bereits unter Tränen davon, wie trostlos seine Kindheit war (und dass der Vater die Mutter erschlug). Gleich zwei Teilnehmer bekannten, sich mit Verwandten ersten Grades überworfen zu haben: Peter Althof hat seit drei Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn, Eric Stehfest seit zwei Jahren kein Wort mehr mit seiner Mutter gewechselt (rätselhafterweise weil seine Ehefrau vergewaltigt wurde).
Scham gilt in der Psychologie als eines der mächtigsten negativen Gefühle des Menschen, und er ist bereit, die unvorstellbarsten Dinge zu tun, um sie zu vermeiden oder abzuwehren. Dennoch gibt es scheinbar nichts, worüber im Dschungel nicht gesprochen werden könnte. Doch dieser freimütige Schein trügt: Trotz allen seelischen Exhibitionismus gibt es auch im Dschungel ein riesengroßes Tabu, das nie explizit verhandelt wurde und doch allen bekannt ist. Man mag sich in Hunger-Rage mit Ausdrücken belegen, dass der Kesselflicker erblasst, und selbst zu rassistischen Anwürfen ist es dieses Jahr schon gekommen, aber niemand, wirklich niemand würde je auch nur ein Wort verlieren über den Elefanten im Raum (respektive die Elefantitis). Es ist völlig unvorstellbar, dass jemand zum Beispiel den Glööckler fragt, wieso er eigentlich so aussieht, wie er aussieht, oder welche Gedanken ihm so durch den tätowierten Schädel rauschen, wenn er seiner selbst ansichtig wird. Ist da noch Schönheit im Auge des Betrachters? Oder überlegt er dassselbe wie ich? Haben Zuschauer und Personal im Reality-TV also überhaupt noch eine gemeinsame Realität? Gerade weil der schwäbische Modedesigner ansonsten durchaus sympathisch und in jedem Fall die geistesklarste Person im Camp ist, würde mich die Antwort darauf wirklich interessieren.
Gleichwohl ist Harald Glööckler nicht der Einzige, dem man diese Fragen stellen könnte. Jedes Jahr, so scheint es, sitzen im Dschungelcamp mehr Schlauchbootlippen, Ganzkörpertattoos, Silikonkissen und Veneers (wir alten Leute nennen es Jacketkronen) mit ums Feuer – für alle gut sichtbar und doch hinter einem Sprechverbot verborgen, dessen Grund sich mir nicht so recht erschließen will. Warum kann man in unserer Kultur jemandem jederzeit ein Kompliment machen zu einer neuen Frisur oder einer neuen Brille, aber auf gar keinen Fall zu anderen, bisweilen weitaus augenfälligeren Accessoires, die ja ebenfalls allein dem Zwecke der Verschönerung dienen? Warum reagiert man auf die strahlendsten, ebenmäßigsten Schneidezähne, die rundesten Apfelbäckchen und die vollsten Lippen just genauso, wie ein gut erzogener Mensch in meiner Jugend auf Feuermale, Warzen, Narben oder ähnliche damals noch Entstellung genannte Ereignisse in anderer Leute Gesichter: mit taktvollem Übersehen? Ist das nicht paradox? Auf jeden Fall ist es gemein. Ich meine, da überzieht die Semiprominenz ihren Körper mit den absurdesten Verheerungen, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wird dafür aber mit völliger Nichtbeachtung bestraft. Warum sind die Menschen so böse?

Am besten beobachten kann man dieses Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom in der „Stunde danach“, einer dummen Sendung, die RTL jeden Abend im Anschluss an „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“ ausstrahlt. Darin verdienen sich in die Bedeutungslosigkeit zurückgefallene Dschungelbewohner vergangener Staffeln ein Gnadenbrot, indem sie die aktuelle Show einer Art humorloser Manöverkritik unterziehen. Nicht an alle dieser Veteranen kann ich mich erinnern. Manche habe ich vermutlich einfach vergessen, aber viele der weiblichen Ex-Camperinnen haben inzwischen auch praktisch keinerlei Ähnlichkeit mehr mit sich selbst vor zwei oder drei Jahren. Dies dokumentieren regelmäßig kleine Einspielfilme aus den vergangenen Dschungeltagen der Protagonistinnen, die den damaligen Stand der Dinge wiedergeben. Betrachtet man dann aber die aktuelle Version von zum Beispiel Gina Lisa Lohfink, Kim Gloss oder Melanie Müller, dann kann man nicht anders als zu spekulieren, dass die Damen ihre gesamte Dschungelgage in weitere schönheitschirurgische Machbarkeitsstudien investiert haben. Sie nicht darauf anzusprechen, dürfte selbst dem willensstärksten Gegenüber enorm viel abverlangen. Aber es tut dennoch niemand.
Dabei es ist auch hier wie überall: Mit Schweigen, Tabuisieren und Ignorieren macht man alles nur noch schlimmer! Denn wenn die Würdigung ausbleibt, drehen halt alle noch ein bisschen mehr an der Schraube in der Hoffnung, dass es irgendwann endlich auch mal jemand bemerkt. Vielleicht hätte Angela Finger-Erben deshalb die vorletzte Dschungelkönigin Jenny Frankhauser die Tage einfach mit den Worten begrüßen sollen: „Hallo, Jenny, gut siehst du aus, vor allem mit diesen vielen neuen Zähnen!“ Vielleicht hätte diese simple Form des Anerkennens und darüber Sprechens die Rettung bedeuten können für eine junge Frau mit der Berufsbezeichnung „Reality-TV-Teilnehmerin“. Vielleicht wäre es noch früh genug gewesen für einen Weg zurück, für einen Ausstieg aus dem Teufelskreis, in dessen Zentrum bis vor Kurzem noch Grichka und Igor Bogdanoff auf einen warteten.
Wenn man endlich Scham und Fremdscham überwinden und offen über diese ganzen Eingriffe in die Refugien von Mutter Natur und die dahinterstehenden Beweggründe sprechen würde, dann könnten auch alle eventuell kursierenden Missverständnisse und Irrglauben aus der Welt geschafft werden, wie zum Beispiel der, dass ein Mangel an irgendeinem Talent durch ein Zuviel an Chirurgie zu beheben sei. Dann müssten junge, gesunde Menschen vielleicht nicht mehr lange vor der Zeit zu Mitteln und Maßnahmen greifen, die ursprünglich doch die optischen Prozesse des Alterns aufheben oder zumindest abmildern sollten. (Ich meine, wenn die einmal 50 sind, gibt es ja praktisch nichts mehr, wo sie ansetzen können.)
Am Ende geht es damit natürlich auch darum, endlich einer gierigen Schönheitsindustrie das Handwerk zu legen, die gegen jede in meiner Reality herrschende Vernunft die Gesichter unschuldiger (junger) Menschen aus der ganz normalen Normalität ins Groteske operiert. Indem wir aber alle so tun, als würden wir es nicht sehen, tragen auch wir unseren Teil dazu bei, dass dieses Unrecht weiter geschieht. Dabei könnten außer Dr. Frankenstein und seinen Düsseldorfer Freunden eigentlich alle nur gewinnen, wenn man einmal ganz offen mit den Betroffenen über die Nutzlosigkeit, ja Kontraproduktivität von Schönheits-OPs sprechen könnte, ohne gleich als unhöflich zu gelten.
Dies gilt umso mehr im Dschungel, wo in diesem Jahr so viel wie noch nie zuvor darüber gesprochen bzw. gezankt wurde, wer oder was alles Fake ist, falsche Show und wahres Gesicht. Mit dieser Frage sind die versammelten (Kunst-)Figuren schon einmal auf der richtigen Spur. Die finale Entscheidung in dieser Angelegenheit kann der Gärtner natürlich trotzdem nicht dem Bock überlassen. Auch in diesem Jahr beurteilt dies am Ende wieder der Zuschauer, der erfreulicherweise ein recht feines Gespür dafür besitzt, hinter welchen falschen Zähnen doch ein halbwegs echtes Lächeln wohnt. Daher gewinnt die Krone seit über 15 Jahren am Ende (in Relation) immer nur sie: die natürliche Schönheit, die von innen kommt. In einem optischen Medium wie dem Fernsehen hat sie es freilich Jahr für Jahr schwerer.


Super beobachtet und sprachlich ein Highlight!!!
Ein echter Hochgenuss beim Lesen. Danke!!!
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Wie Recht du doch hast. Ich beneide dich schon sehr um die Qualität deiner Gedanken und deiner Worte. Zu dem Thema fehlen mir die Worte, seit ich im Sommer 2008 (gut, ist schon etwas her) von einer Abiturientin erzählt bekommen habe, dass 18 von 31 Mädels ihres Jahrgangs zum Abitur neue Brüste bekommen haben. Mich würde lediglich interessieren, ob es inzwischen die Hinterteile sind, die als Abiturgeschenk aufgearbeitet werden.
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Vielen Dank für das schöne Kompliment! Bei dem, was du schreibst, fragt man sich tatsächlich, was das denn für Eltern sind, die das bezahlen..
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