Vor auf den Tag genau zwei Jahren, zwei Wochen und zwei mal zwei Tagen habe ich an dieser Stelle die erste Seite eines kleinen Tagebuchs beschrieben in dem Versuch, der ungeheuren Beklemmung im allerersten Corona-Lockdown irgendetwas entgegenzusetzen, mich davon nicht lähmen, sondern vielleicht sogar beflügeln zu lassen. Das hat – von heute aus betrachtet – geklappt, dies allerdings auch deshalb, weil ich selbst und alle, die ich mag, von allen ernsteren Auswirkungen des Virus verschont geblieben sind. Wie sich die Angst anfühlte, die damals, im Frühjahr 2020, überall herrschte, hatte ich inzwischen komplett vergessen. Nun weiß ich es wieder. Dem emotionalen Déjà-vu, das der Krieg in der Ukraine bedeutet, lässt sich freilich nicht so einfach und leicht begegnen. Deshalb schließe ich das Tagebuch heute. Dies tue ich an einem Tag, den ich sonst dem unausweichlichen rheinischen Brauchtum gehorchend hier irgendwo um die Ecke schunkelnd auf der Straße verbracht hätte. Es schien fast, als würde etwas Ähnliches dieses Jahr wieder möglich sein, jetzt, wo bald der Frühling kommt und der Corona-Schrecken vielleicht endlich weitestgehend gebannt ist. Doch die eigens ausgewiesenen Karnevalszonen vor meiner Haustür blieben heuten leer. Nebenan in Köln war das anders. Wenn man noch spotten dürfte, würde ich sagen, dort haben sie die Gunst der Stunde genutzt. In jedem Fall wurde dort unter anderem für den Frieden demonstriert.

250.000 größtenteils Kostümierte waren auf der Straße. Was gegen Corona nachweislich nicht hilft, richtet vielleicht gegen Krieg etwas aus. In jedem Fall hoffe ich, dass die sozialen Medien, auf die ich hier so manches Mal geschimpft habe, die Bilder des weltweiten Protests auch dahin tragen, wo sonst das Staatsfernsehen die Stimmung manipuliert. „Es werden Soldaten mit weißen Kätzchen gezeigt“ war der Titel eines Artikels zum Thema auf „Zeit online“, den ich heute neben zahlreichen anderen las und der bei mir genauso viel Angst, Ohnmacht und Wut auslöste wie die ganze Berichterstattung derzeit und auch die vielen Sondersendungen, die jetzt wieder das TV-Programm dominieren. Auch dies ganz ähnlich wie vor zwei Jahren. Die Reaktionen der Politik sind sicher weniger ins Blaue gerichtet als bei Corona, aber eine adäquate Antwort auf die Bedrohung bzw. mein Gefühl, der Bedrohung hilflos ausgeliefert zu sein, sind sie nicht. 100 Milliarden für die Rüstung: Ich habe noch ein Déjà-vu in diesen Tagen. Denn alt, wie ich bin, erinnere ich mich auch noch gut an einen nebligen, nasskalten Samstagmorgen im Herbst 1984, an dem ich an der Hunsrückhöhenstraße zwischen Buchholz und Emmelshausen stand, zusammen mit Schulfreunden, und Glied war in einer großen Menschenkette, mit der die Friedensbewegung für die Abrüstung bzw. gegen die Aufrüstung protestierte und auch gegen die Pershing-II-Raketen, die auf der nahe gelegenen amerikanischen Airbase Hahn stationiert waren. Heute starten von dort die Billigflieger in den Urlaub.

An diesem 24. Oktober 1984 war sicher jugendliche Meinungsfreude eher als echte Angst der Hintergrund meines Protests. Aber die atomare Bedrohung als bleischwere atmosphärische Störung dieser ganzen Jahre ist mir durchaus erinnerlich. Festgehalten ist sie in Songs wie „Cruise Missiles“ von Fischer-Z (1981) und „Russians“ von Sting (1985). „Atomraketen“ und „Atomkraftwerke“ sind praktisch die Triggerwörter meiner Generation. Nun fallen sie wieder. Als Reaktion rüsten wir auf, und was Zukunft sein sollte, wird plötzlich Vergangenheit. History repeating? Ich wollte es heute hoffen, denn dann kämen als Nächstes ja Gorbatschow und die Scorpions (die ich damals gar nicht so richtig zu schätzen gewusst habe).

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