Adventskalender 2023

Donnerstag, 1. Dezember

Der Countdown läuft: In 23. Tagen steht die Ankunft des Herrn zu erwarten. Um dieses Ereignis angemessen vorzubereiten und die Freude anzuheizen, ist das Führen eines Adventskalenders auch in diesem Blog seit jeher gute Tradition. Jedoch: Eine thematische Klammer zu finden, die die Sache zusammenhält und in Text und Bild für 24 Portionen reicht, wird von Jahr zu Jahr schwerer. Meine Vorräte sind inzwischen nahezu aufgebraucht. Bedauerliche Folge dessen ist es, dass der Kalender dieses Jahr praktisch keinerlei Bezüge zum vorweihnachtlichen Themenkreis besitzt: Weit und breit kein Advent, Christkind oder Nikolaus. Und das ist nicht der einzige Disclaimer, der vorgeschaltet werden muss: Daran, dass mir selbst mit Highend-Handy maximal mittelmäßige Bilder gelingen, hat sich auch in diesem Jahr nichts geändert. Meine Schwerpunkte liegen einfach woanders. Damit gewissermaßen korrespondierend lautet der Titel der diesjährigen 24-teiligen Versuchsanordnung „Schrift im öffentlichen Raum“, und wir werden hier betrachten, was ich an Botschaften und Beispielen im Laufe der Zeit so zusammengetragen habe. Denn wo immer ich draußen in der Welt Schrift(züge) erblicke, die mich aus irgendeinem Grund erfreuen, mache ich ein Foto davon, auch damit ich sie bei Gelegenheit jemandem zeigen kann. Was soll ich sagen: Es ist für uns eine Zeit angekommen.

Besser könnte man meine dokumentarische Intention kaum zusammenfassen.
Et voilà.

Freitag, 2. Dezember

Nachdem ich gestern noch haderte mit den mangelnden saisonalen Bezügen hinter den hiesigen Türchen, las ich irgendwo, dass es auch Adventskalender mit Wurst gibt. Da habe ich natürlich gleich mal gegoogelt, schließlich wollte ich wissen, wie ich mir das vorstellen muss. Beim Stöbern in den Suchergebnissen bin ich dann aber leider recht schnell vom Weg abgekommen, immerhin heischten Dinge wie der Essig-und-Öl-Kalender (29,90), der Grillgewürze-Kalender (24,99) oder der „Atemfrische-Kaugummi-Adventskalender“ (49,90!) nach Aufmerksamkeit. Man könnte es so zusammenfassen: Im Food-Bereich gibt es praktisch nichts, was es nicht auch als Kalender gibt, und ich fürchte, im Non-Food-Segment sieht es ähnlich aus. Hier zählt der „Mindful Adventskalender 2022 mit 24 Achtsamkeitskarten“ zu meinen persönlichen Favoriten. Der Grund liegt auf der Hand: Er bereitet sehr schön den Boden und den Übergang zu unserem heutigen Thema: der Achtsamkeit. Als christliche böse alte Frau kann ich mit selbiger selbstredend nicht allzu viel anfangen, denn die Grundidee meiner Sekte ist ja die Nächstenliebe, also praktisch das Gegenteil von Achtsamkeit, bei der man sich doch eher auf sich selbst konzentriert. Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen ist die Achtsamkeit inzwischen ungleich populärer als der Katholizismus. Außer mir gibt es eigentlich niemand, der nicht achtsam sein möchte. Manche gehen sogar zum Achtsamkeitsarzt, der hier in Bonn praktiziert und seine Sache durchaus offensiv unters Volk bringt.

„Still, still, still, weil´s Kindlein schlafen will“: Ob es wohl achtsam ist, seine Mitmenschen derart optisch anzuschreien?

Samstag, 3. Dezember

Zu den häufigsten und gleichzeitig störendsten Formen, in denen uns Schrift im öffentlichen Raum begegnet, gehört Werbung jedweder Art. Doch in stetiger darwinistischer Optimierung auch der Spezies Mensch schreitet die Evolution immer weiter voran, und die Besten von uns sind heute bereits in der Lage, speziell Printwerbung ohne jegliche bewusste Kognitionsleistung aus ihrem Blickfeld auszufiltern. Doch seit geraumer Zeit stehen wir vor neuen Herausforderungen. Denn praktisch an jeder Kreuzung und Ampel lauert einer dieser heimtückischen Info-Screens auf arglos wartende Fahrzeugführer, um ihnen seine grellen Botschaften in die Netzhaut zu brennen. Anders als herkömmliche Plakatwände, die die Straßen längsseitig säumen und tagelang lediglich eine einzige Botschaft verbreiten, ist das neue Marketing-Geschütz frontal zum Gegner ausgerichtet und beschießt ihn 24/7 im Schnellfeuer mit zig Anzeigen hintereinander. Es ist die modernste Waffentechnik, die die Propagandaabteilung des Kapitalismus da aufbietet. Sie nennt sich „Digital Out-of-Home“-Werbung (DOOH), was frei übersetzt „digitale Außenwerbung“ bedeutet, und ist in kürzester Zeit aus der Ferne programmierbar. Vereinfacht gesagt kann eigentlich jeder, der es bezahlen kann, den DOOH-Kanal per App mit selbst gestaltetem Material beschicken. Das allerdings scheint mir mehr Fluch als Segen zu sein. Denn wirklich augenfällig an der digitalen Außenwerbung ist bislang allenfalls der eklatante Widerspruch zwischen der Professionalität der Form und dem Dilettantismus der meist regionalen Inhalte. Erwärmen kann ich mich eigentlich nur für eine Sorte „Spots“ auf Info-Screen-TV, nämlich für die seltsamen statistischen Kurzmeldungen, die hier in Bonn regelmäßig zwischen der Werbung eingeblendet werden (ihrerseits aber vermutlich auch wieder Werbung für irgendwas sind). Just heute Morgen wurde ich in einer längeren Rot-Phase über die größten Käseproduzenten der Welt in Kenntnis gesetzt (die USA). Aber man erfährt auch die Anzahl der lokal agierenden „Unternehmen zur Herstellung von Möbeln“ (21) und andere wichtige Dinge, die man im Straßenverkehr wissen muss. Dass in den Werbepausen nichts zu der Parksituation in der Innenstadt oder zu den Staus im Umland vermeldet wird, liegt auf der Hand. Dafür gibt es ja schon wieder eigene blinkende Schilder.

Es kommt ein Schild geladen und flutet uns mit Sinn.

Sonntag, 4. Dezember

„Narrenhände beschmieren Tisch und Wände.“ Dass das ein besonders blöder Erwachsenenspruch ist, wusste ich schon, als ich, kaum auf dem Gymnasium angekommen mit den ersten Englischbrocken und anderem prahlend, „Uriah Heep are the greatest“ in die Schulbank ritzte. (Bis heute kenne ich nur ein einziges Stück von denen.) Ich hatte damals schon die ganz klare Ahnung, dass man damit nur alle Zornigen, Mutigen und Expressiven zurück in die geordneten Bahnen des Bürgertums diffamieren wollte. Inzwischen, viele Jahrzehnte später, bin ich aber offensichtlich selbst so verknöchert, dass mir der Spruch regelmäßig durch den Kopf geht, wenn ich irgendwelche hässlichen hingekritzelten Schriftzüge auf Häuserwänden erblicke. In der überwiegenden Anzahl der Tags erkenne ich nämlich eher den ungestümen Ausfluss von Testosteron als den eines noch ungeschulten Künstlertums. Das liegt auch daran, dass viele der nachtaktiven Sprayer kaum mehr an die Wand bringen als den eigenen Namenszug. Diese Egozentriertheit der Botschaft erinnert mich ein wenig an die hier bereits angesprochene Achtsamkeitsproblematik. Doch natürlich gibt es auch Mauermaler und -poeten von der zugewandten Sorte, die der Welt wirklich etwas Wesentliches mitzuteilen haben. Im vorvergangenen Jahr war so jemand in dieser Stadt unterwegs und hat an einigen exponierten Ecken ganz zauberhafte Denkanstöße hinterlassen. Leider konnte ich es in puncto Schnelligkeit nicht mit der Stadtreinigung aufnehmen. So gelang es mir nur, eine einzige seiner Sentenzen für die Ewigkeit festhalten. Die aber liebe ich, denn auch wenn das Schriftbild und die emotionale Grundhaltung auf einigen Alkoholgenuss schließen lassen, erkenne ich darin eine zornige und verletzte Seele, deren Empörung ich teile und der ich aus vollem Herzen zustimmen möchte: „Aber wirklich!“

"Wachet auf, ruft euch die Stihihimme": Dann könnt ihr links mein Fahrrad sehen.

Montag, 5. Dezember

Werbung, Graffiti und Verkehrs- und Hinweisschilder verschiedenster Art – unter diesen drei Haupterscheinungsformen von Schrift im öffentlichen Raum ist letztere sicher die beliebteste. Denn Hinweisschilder weisen uns den Weg zum Ziel, machen uns auf Wichtiges aufmerksam oder liefern Anhaltspunkte für erwünschtes Verhalten. Sie bieten uns also Orientierung in jedweder Hinsicht, führen uns mithin ganzheitlich zurück auf den richtigen Weg. Gerade die Bedeutung von Straßenschildern schwindet jedoch, seit mehr und mehr Menschen bereit sind, Navigationsgeräten und anderen elektronischen Hilfsmitteln mehr zu glauben als den eigenen Augen. Was diese Schilder aber an Aufmerksamkeit in geografischem Sinne einbüßen, scheinen sie an politischer zu gewinnen. Denn Straßenschilder heute sind auch moralische Orientierungspfosten am Scheideweg von Gut und Böse, links und rechts. Die Frage ist quasi immer weniger, wo eine Straße ist bzw. wohin sie führt, sondern wofür sie steht. Angesichts dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ist es kein Wunder, dass auch die Straße, in der ich wohne, vor nicht allzu langer Zeit diesbezüglich befragt wurde. Denn es ist die – Achtung, Achtung – Adolfstraße. Mehr als 75 Jahre lang ist niemand ernsthaft auf die Idee gekommen, sie könnte wirklich den Namen des Mannes tragen, für den ich keine Synonyme finden möchte. Aber nun hat der Verdacht über dieses Grundvertrauen gesiegt, und es war offensichtlich erforderlich, dies auch nachzuweisen und sich dahin gehend abzusichern. So wurde das Hinweisschild vor gut einem Jahr seinerseits mit einem Hinweisschild versehen, auf dass hier niemand in die Irre geht. Lieber noch als das aktuelle hätte ich deshalb das alte Straßenschild hier gezeigt, das ich eigentlich auch immer mal fotografieren wollte. Damit das jetzt aber niemand wieder falsch versteht, erkläre ich ebenso explizit wie entschieden: Wir Bewohner der Adolfstraße (auch die von Haus Nummer 33 und 89) stehen geschlossen hinter der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

"Gott sei Dank durch alle Welt": Es ist der gute Adolf, nicht der andere.

Dienstag, 6. Dezember

Wo beginnt eigentlich der öffentliche Raum? Nun, ich würde sagen: direkt vor der eigenen Haustür, also im Falle eines Mehrfamilienhauses gleich im Flur oder Treppenhaus. Auch hier gibt es mitunter viel Schrift. Speziell da, wo die Nachbarn aufgehört haben, miteinander zu sprechen, und zum Zettelaushang übergegangen sind, wird es spannend. Das Interessanteste bzw. Amüsanteste, was ich an Zetteln im Hausflur gefunden habe, war vor vielen Jahren ein fotokopierter „System-Vergleich“ zum Thema „Jesus versus Mohammed“. Der anonyme Schreiber hatte auf zwei Seiten tabellarisch zusammengestellt, was für Jesus bzw. gegen Mohammed spricht. In der einen Spalte stand dann zum Beispiel: „Jesus hat die Bibel gelesen“ und in der anderen „Mohammed war Analphabet“ oder „Jesus hat verdorrte Hände geheilt“ bzw. „Mohammed hat gesundete Hände abgehackt“. Die Argumentation endete mit „Jesus lebt“ und „Mohammed ist tot“ und hat mich letztlich nicht überzeugt. Zurück blieben allerdings Sorgen um den Gemütszustand der Nachbarschaft. Ich bin dann bald weggezogen. In dem neuen Haus geht man wie gesagt weitgehend freundlich miteinander um. Im Urlaubsdomizil im Schwäbischen bin ich diesen Sommer aber auf eine kleine schriftliche Manifestation nachbarschaftlicher Zwistigkeiten gestoßen. Stein des Anstoßes war wie sicher vielerorts der Müll. Vom Ton her klingt die kurze Verlautbarung Gott sei Dank noch recht moderat bzw. beherrscht. Es ist ja nicht so, dass ich das Publikum hier kurz vor dem Friedensfest damit erfreuen möchte, wie andere Leute sich zanken. Was mir gefallen hat, war vielmehr diese kleine dialektale Einfärbung, die ich hier zu „hören“ glaube.

Niklaus, komm in unser Haus, und stell dein Sackerl richtig raus.

Mittwoch, 7. Dezember

Da, wo geschrieben wird, ist ein ander Ding meist auch nicht weit: der Fehler. Das ist im öffentlichen Raum nicht anders als in der Grundschule. Den Fehler aber wieder aus der Welt zu schaffen, gestaltet sich dort ungleich schwerer. Denn meist ist die Schrift in eine Form gegossen, die keine Korrektur mehr erlaubt. Ein schönes Beispiel dafür begegnete mir vor Jahren in Form eines Tattoos auf dem Unterarm einer Dame, die körpernahe Dienstleistungen an mir erbrachte. Zahlreiche farbenfrohe Gravuren zierten ihre Extensorenmuskulatur, darunter auch ein in altmodisch ziselierter Schrift gestalteter Satz, der sowohl einen Komma- als auch einen Rechtschreibfehler enthielt. Ich habe natürlich nichts gesagt. Was hätte es auch genutzt? Überhaupt interessiert mich die schlaumeiernde Korrektur von Fehler nicht die Bohne. Die Freude aber, die entsteht, wo Fehler das semantische Bedeutungsfeld erweitern und die Tür aufstoßen für neue Denkweisen, die teile ich gerne. So ist es auch im heutigen Fall, in dem das, was auf den ersten Blick wie eine syntaktisch-lexikalische Verwirrung anmutet, auf den zweiten nichts weniger bedeutet als einen kompletten Perspektivwechsel. Was der Dienstleister hier zum Ausdruck bringt, ist nicht sein Angebot an die Zielgruppe, sondern seine perfekte Einfühlung in diese. Man sieht förmlich, wie ein Kunde in höchster Not, das defekte Endgerät schwenkend, den Laden betritt und sein Anliegen stammelnd hervorpresst: „Computer! Sofort Hilfe!“

Freut euch, der Retter ist da!

Donnerstag, 8. Dezember

Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, kann viel lernen, auch neue Wörter. Auf ein besonders schönes bzw. rätselhaftes stieß ich vor einiger Zeit an einem Ort, an dem man solche Entdeckungen gar nicht erwarten würde: in der Autowerkstatt:

Macht hoch die Tür, das Tor macht weit: Hier wohnt ein Stückchen Achtsamkeit.

Allein das Rolltor lässt erahnen, das sich hinter der „Dialogannahme“ keine Außenstelle der Telefonseelsorge verbirgt. Die Bezeichnung selbst dagegen erlaubt auch dem phantasiebegabtesten Laien keinerlei Annäherung an das Bezeichnete. Aber eben deshalb, also weil der Begriff so schön schwammig ist, ja in diesem Kontext fast absurd klingt, lädt er ein wenig zum Philosophieren ein, zum Beispiel über gelingende Kommunikation oder darüber, in welcher seiner Bedeutungen das Wort „Annahme“ hier zu verstehen ist: eher im Sinne von „Empfang“ oder von „Hypothese“? Ich favorisiere natürlich Letzteres. Freilich habe ich in der Zwischenzeit gegoogelt und herausgefunden, was man sich unter einer „Dialogannahme“ vorstellen muss: Hier werden die Reparaturaufträge entgegengenommen. Warum das Ganze aber so bezeichnet sein muss, dass es eigentlich keiner versteht (und das Schild so auch niemandem den Weg weisen kann), habe ich nicht verstanden. Vermutlich handelt es sich wieder um einen dieser windelweichgespülten Neologismen bzw. Euphemismen aus der Welt der Wirtschaft, mit denen uns die alten Mechanismen der Ausbeutung auf neuen psychologischen bzw. emotionalen Wegen als Sorge um den Kunden oder Mitarbeiter untergejubelt werden sollen. Ein weiteres solches Wort habe ich just heute morgen gelernt: Wenn ein Bewerber auf einen Job vorab ein kurzes Schnupper-Praktikum in der Firma absolviert, nennt man das inzwischen „Einfühlungsverhältnis“. Zum Einfühlungsverhältnis in die Dialogannahme: Ach, jetzt ist es doch fast ein Achtsamkeitskärtchen geworden.

Freitag, 9. Dezember

Ein klassischer Gegenstand der Satire sind seit Jahren die Namen von Friseurgeschäften, die ja heute nicht mehr einfach „Salon Roswitha“ heißen, sondern „Kamm in“; „Hair Force One“ oder „Schnittchen“. Überhaupt steht das Wortspiel bei der Benennung von inhabergeführten Läden und Kleinbetrieben landauf, landab hoch im Kurs. Manche der zum Zweck des Scherzes bemühten Doppeldeutigkeiten sind durchaus originell, bei vielen aber graust es mich. (Im Fall der Friseure sind sie einfach oft zu sehr an den Haaren herbeigezogen. Entschuldigung, das konnte ich mir nicht verkneifen.) Unentschlossen bin ich noch im Fall eines Imbisses, an dem mich mein Weg zum Sport mehrmals in der Woche vorbeiführt. Er trägt den Namen „Jenny´s GerichteKüche“.

„Butter, Mehl und Milch verrühren, zwischendurch einmal probieren …“

Einerseits bin ich natürlich ganz begeistert davon, dass hier das oben kurz dargestellte Prinzip der Namensgebung umgekehrt, wenn nicht gar dekonstruiert wird. Denn statt auf Basis eines bekannten Begriffs ein Wortspiel anzustellen, um einen neuen Namen zu kreieren, wird hier ein bereits existierendes Wortspiel (die Gerüchteküche) praktisch neutralisiert und der Begriff vom Metaphorischen zurückgeführt auf seine wörtliche Bedeutung. (Wir hier in Bonn sind einfach enorm innovativ!) Andererseits muss man ehrlicherweise sagen, dass das Ergebnis dieses sprachlichen Experiments nicht ganz überzeugt. Denn was herauskommt, ist ja kein besonders pfiffiger Terminus, kein Eigenname mit Aha-Effekt, sondern ein etwas umständlich und redundant klingendes Kompositum. Aber noch einmal umgedacht ist es das eigentlich auch gut und richtig so, denn allzu viel Schnick und Schnack und Spielerei würde überhaupt nicht passen zu der ehrlichen, bodenständigen Küche, die Jenny in ihrem (gut frequentierten) Imbiss offeriert. Es gibt dort eher Bratwurst mit Kohlrabi. Deshalb fällt es mir auch nicht so leicht mich wie geplant von der Gerichteküche zur Weihnachtsbäckerei hinüberzufabulieren, und ich lasse es lieber, bevor das Ergebnis seinerseits nicht überzeugt.

Samstag, 10. Dezember

Wir kommen in diesem Kalender von der Achtsamkeit einfach nicht los. Heute habe ich hier schon wieder so ein Bild mit Schild, das eindeutig eine starke Botschaft aus diesem Themenkreis sendet. Langsam frage ich mich, ob ich womöglich mit einem völlig einseitigen Erkenntnisinteresse durch die Welt laufe bzw. ob das, worauf sich mein Blick richtet, am Ende mehr über meine wahren Bedürfnisse verrät, als mir selbst bewusst ist. Lieber wäre mir allerdings, es läge nur daran, dass aktuell Herr Kommerz und Frau Achtsamkeit so eine enge Bindung eingegangen sind, dass man einfach überall über die arme ausgebeutete Braut stolpert. Wie dem auch sei: Achtsamkeit ist eine Quelle des Glücks.

Eine Muh, eine Mäh, eine Täterätätä: Was gibt´s denn hier?

Damit sind der innerkalendarischen Intertextualitäten jedoch noch nicht genug: Das heutige Türchen führt uns auch tiefer ins gestrige Thema der Firmennamen. Denn getreu dem beflügelnden Motto der unvergessenen Weihnachtstassen „Immer zweimal mehr wie du“ hat das unscheinbare hölzerne Häuschen hier bei näherem Hinsehen noch mal deutlich mehr bieten:

Glück, Wolle und Frisuren: Wo jetzt was verkauft wird und wie viele Läden es eigentlich sind, habe ich nicht so richtig verstanden. Aber wenn die Quelle so sprudelt, soll der Frosch nicht unken.

Sonntag, 11. Dezember

Bösere Zungen als meine behaupten ja, Berlin würde mindestens zur Hälfte von Schwäbinnen und Schwaben bevölkert, die aus den engen, bedrückenden Milieus ihrer Heimat in die räumliche und gedankliche Weite der Hauptstadt geflohen seien. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber sicher ist: Später sind auch noch ein paar Bonner dazugekommen. Während nun aber in Berlin, dem Herzland des kritischen Denkens, viele mit großen Eifer dabei sind die Straßen der Stadt von Spuren des kolonialen Erbes zu bereinigen und Rassismus auch in Form von Straßennamen zu bekämpfen, ist in der alten Heimat scheinbar niemand mehr übrig, der sich um diese Dinge kümmern würde. Was man im Schwabenland und in der rheinischen Provinz an Zeugnissen ewiggestriger Geschichtsvergessenheit immer noch findet, ist jedenfalls geradezu verstörend.

Der Diminutiv macht es nicht besser.

Dies entdeckte ich bei einem Stop-over auf dem Weg ins Land von Myrthe und Zitronen in Bad Krozingen. Aber auch hier in Bonn gäbe es durchaus etwas, das diesbezüglich Aufmerksamkeit verdient hätte, und es wundert mich tatsächlich, dass sich in einer Studentenstadt noch niemand an dem sogenannten Hauszeichen gestoßen hat, das das Gebäude gleich neben dem berühmten Beethovenhaus ziert.

„Shall I play for you, pa rum pum pum pum“: Halt, nein, was wir sehen, ist keine Trommel, sondern ein Tabaksfass.

Es handelt sich um eines der ältesten Bürgerhäuser der Stadt, in dem zu Beginn des 19. Jahrhunderts „eine Spezereiwarenhandlung mit Gewürzen und Waren aus exotischen Ländern befand – vermuteter Grund für die Verwendung des Mohren als Hauszeichen“, so die Wikipedia. Ich gebe zu, ich fände es schade, wenn man dieses alte Haus seines Wahrzeichens berauben würde, aber über ein Hinweisschild (wie in der hiesigen Adolfstraße), könnte man vielleicht schon nachdenken.

PS: Ich habe mich in meiner alten Heimat auch einmal nach Spuren umgesehen und bin erschreckenderweise in meinem eigenen Elternhaus fündig geworden:

Rassismus in Form von Topflappen: unbelieveable!

Montag, 12. Dezember

Eine Form von Schrift im öffentlichen Raum, die hier noch nicht behandelt wurde, ist die Inschrift. Der halbe Kalender ist schon befüllt, es wird also höchste Zeit, sich damit einmal zu beschäftigen. Wohlan: Die für Inschriften zuständige Wissenschaft heißt Epigraphik und unterteilt ihren Gegenstand nach Ort der Anbringung und Zweck in weitere Unterformen. Man denke etwa an Grabinschriften oder Denkmäler. Eine andere Kategorie ist die Hausinschrift, und hier muss man sagen: Es gibt solche und solche. Just dieser Tage noch schlenderte ich durch meinen alten Heimatort und bestaunte wieder einmal die schönen Fachwerkhäuser aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die sich dort reichlich finden lassen und von denen einige auch eine Hausinschrift (nicht selten ein Segensspruch) tragen. Die altmodische Schrift der meisten habe ich schon als Kind zu entziffern versucht, und einige kenne ich bis heute auswendig: „Nicht Kunst noch Fleiß noch Arbeit nützt, wenn Gott der Herr das Haus nicht schützt.“ Gerade denke ich, ich hätte mal ein Foto davon machen sollen. Eine andere Hausinschrift jedoch habe ich fotografiert, und wer hier gestern schon gestaunt hat, was im Schwäbischen und im Rheinland so möglich ist, der war noch nicht in Bregenz am Bodensee:

Heute passe ich an dieser Stelle, denn in diesen Zuammenhang möchte ich keines unserer schönen Advents- und Weihnachtslieder bringen.

Ausgerechnet am Portal einer Schule prangt dort bis heute diese Inschrift. Nun ist es mit Inschriften ähnlich wie mit den hier bereits behandelten Schreibfehlern: Was erst einmal in Stein gemeißelt ist, lässt sich nur schwer wieder entfernen. Die Tafel in der Mitte erklärt daher, dass die Schule bereits 1914 gebaut wurde, sorgt für ein wenig Kontextualisierung und unterstreicht: „Die Landeshauptstadt Bregenz bekennt sich zu einer multikulturellen Gesellschaft und deshalb jede Form von Fundamentalismus, Intoleranz und Gewalt ab.“ Angesichts dessen fällt es mir aber eigentlich nur umso schwerer, zu verstehen, warum man diesen Spruch nicht einfach entfernt hat. Was für eine Botschaft geht davon aus, das stehen zu lassen? Und das auch noch in Österreich …

Dienstag, 13. Dezember

Die zweite große Konstante in diesem Kalender neben der Achtsamkeit ist das Rätsel. Denn die Schrift entziffern zu können, heißt noch lange nicht, sie auch zu verstehen. Manches Mal blieb der Sinn der Botschaften, auf die hier nach dem Öffnen des Türchen das Licht der Aufmerksamkeit fiel, gänzlich oder zu Teilen im Dunkeln. Bisweilen lag die Schwierigkeit schon im grundlegenden Verständnis des Textes, ein andermal war die Frage, von wem die Nachrichten stammten, an wen sie sich richteten und warum. So ist es auch heute: Der Verfasser ist unbekannt, und über Schreibziel und Zielgruppe (Frauen, Männer oder gar beide Geschlechter) kann man nur spekulieren.

Also ich nicht!

Ich stieß auf diesen Aufkleber an einer Ampel in der Bonner Innenstadt, und so charmant, wie ich den Vorschlag fand, ich fühlte mich doch nicht bereit dazu. Nichtsdestotrotz wollte ich gerne wissen, wer die Raudis sind (eine lokale Band?) und warum sie sich immerhin die Mühe machen, Aufkleber zu drucken. Doch auch die gigantische WWW-Enzyklopädie und das allwissende Google förderten keinerlei brauchbaren Hinweise darauf zutage. Das fand und finde ich erstaunlich. Doch noch viel erstaunter, ja geradezu verblüfft, perplex und völlig baff war ich, als ich viele Wochen später und viele, viele Kilometer entfernt von Bonn plötzlich irgendwo im Taunus am Rande der A3 das Folgende erblickte:

"Tochter Zion, fro-ho-ho-heue dich!"

Dass sich Raudis nicht mit Schmusen zufriedengeben, hätte ich mir eigentlich denken können. Kennenlernen würde ich sie daher vermutlich doch lieber nicht. Aber wer oder was sich dahinter verbirgt, das wüsste ich schon gerne. Also: Wenn irgendwer hier besser unterrichtet ist (oder bereits nähere Bekanntschaft gemacht hat), bitte ich um Nachricht.

Mittwoch, 14. Dezember

Auf Basis schierer, aber gründlicher Empirie würde ich behaupten: Der überwiegende Teil von Schrift im öffentlichen Raum ist Werbung. Auf diese wollte ich in meinem Adventskalender prinzipiell verzichten, denn den Konsum vor Weihnachten noch anzuheizen, scheint mir einfach nicht nötig. Zum anderen ist es auch so, dass Werbetexte in der Regel aus der Feder von Professionellen stammen. Deshalb ist es nicht allzu überraschend, wenn sie witzig, aufrüttelnd, verstörend oder sonst wie bemerkenswert sind. Gleichwohl kann ich originellen Werbebotschaften durchaus etwas abgewinnen. Erst heute hat mich zum Beispiel die Sparkasse Köln/Bonn kurz stutzen lassen, die auf einem Plakat in großen Lettern mit dem „Größten Kohlevorkommen im Rheinland“ prahlte. Aber besser noch als dieser Slogan hat mir im Sommer ein anderer gefallen, den ich bei der Rast an einer Tankstelle erblickte. Er nötigt mir vor allem auch deshalb Respekt ab, weil es einem das anzupreisende Produkt nicht unbedingt leicht macht, in gefälliger Form sein Hohelied zu singen. Aber ich finde, die Aufgabe wurde mit Bravour gelöst:

In dulci jubilo, nun singet und seid froh: Morgen ist schon Dönerstag.

Donnerstag, 15. Dezember

Bislang haben wir hier vor allem zeitgenössische Zeugnisse der (zunehmenden) Beschriftung des öffentlichen Raums gesehen. Um unseren Gegenstand jedoch in allen Facetten zu erfassen, wollen wir dem Ganzen heute auch eine historische Perspektive hinzufügen. Zu diesem Zweck reisen wir zurück in eine Zeit, die das Mittelalter kaum hinter sich gelassen hatte und in der die Alphabetisierung breiterer Kreise der Menschheit infolge der Erfindung des Buchdrucks gerade erst begonnen hatte. Allzu zahlreich dürften die sprachlichen Zeichen im öffentlichen Raum damals noch nicht gewesen sein, wenn sie doch die meisten noch gar nicht lesen konnten. Umso mehr ragt natürlich heraus, was ich hier einmal eine der spektakulärsten Plakatierungsaktionen der deutschen Geschichte nennen möchte: der Thesenanschlag Martin Luthers. 95 Thesen gegen den Ablasshandel nagelte der Augustinermönch am 31. Oktober 1517 an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Diese Tat markiert den Beginn der Reformation, weshalb die evangelischen Christen am 31. Oktober auch den Reformationstag feiern. Über die Historizität der Ereignisse vermag ich mir kein Urteil zu erlauben, aber ein Foto aus Wittenberg habe ich mitgebracht, aufgenommen bei einem vorweihnachtlichen Kurzbesuch im letzten Winter. Es zeigt die weltberühmte Thesen-Tür. Allerdings handelt es sich nicht mehr um das Original, sondern um eine später angebrachte Tür aus Bronze, in die Luthers Thesen-Katalog sozusagen für die Ewigkeit eingegossen wurde.

"Herbei, oh ihr Gläub'gen": Hier gibt es was zu lesen.

Nun ist der Ablasshandel in der katholischen Kirche inzwischen kein Thema mehr, aber es gibt andere Missstände und Kritikpunkte, die die Mitglieder in Scharen zum Kirchenaustritt bewegen und weitere Reformationen dringend notwendig erscheinen lassen. Den vielleicht kleinsten Aspekt, nämlich jenen der Bürokratie, illustriert schlaglichtartig das folgende Schild, das ich beim Besuch eines der vielen hiesigen Behördenhäuser im Fahrstuhl fotografierte. Der Grund war, dass ich mir auf Anhieb nicht so richtig vorstellen konnte, was diese AG macht, warum sie nötig ist und wer ihr konkret angehören könnte.

"Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund."

Freitag, 16. Dezember

Wer sich dem heutigen Türchen nähert, die Klinke herunterdrückt und es aufstößt, betritt eine Welt, in der es überall ein bisschen glänzt und glitzert und in der trotzdem Schrift und Text zu Hause sind wie an kaum einem anderen Ort dieser Welt: das Theater. Hier regiert natürlich vor allem das gesprochene (oder gesungene) Wort, aber in vielen findet sich über dem Eingang über der Bühne oder an ähnlich exponierter Stelle eine Inschrift. Diese formuliert manchmal eine Widmung, manchmal auch einen Auftrag, dem sich das Musenhaus nach dem Willen seiner Erbauer, Gestalter oder Mäzenen verpflichtet sehen soll. Die lateinische Sprache steht bei solchen Leitsprüchen ganz hoch im Kurs. „Ridendo corrigo mores“ zum Beispiel stand über der Bühne des Theaters, das ich in meiner Kindheit manchmal zusammen mit den Eltern besuchte, und die unbekannte Schrift gehörte für ein einfaches Mädchen vom Lande schon untrennbar zu der Verheißung und dem Glamour, die diese Abende im dunklen Zuschauerraum bedeuteten. (Dass es oft nur seichte Operetten waren, hat mich damals kein bisschen gestört, im Gegenteil.) Im Schauspielhaus Bad Godesberg, dem ersten Theaterneubau in der BRD nach dem Krieg und einem schönen Fünfzigerjahrebau, den ich zugegebenermaßen eher selten besuche, geht es eher licht und hell und nicht mehr so lateinisch muffig zu. Hier ist die Inschrift auf Deutsch, prangt im Foyer und gibt uns wirklich zu denken:

„Derhalben jauchzt mit Freuden singt“: Auch in der Kirche habe ich als Kind viele Texte nicht verstanden.

Man liest es und versucht, den Sinn zu greifen, den ein Satz wie dieser an einem Ort wie diesem doch besitzen muss. Aber wie ich es drehe und wende und deute, ich komme nicht weiter, und ich hege den stillen Verdacht, dass die Hochkultur manchmal einfach auch nur ein bisschen angibt. In jedem Fall ist ähnliche Weisheit auch auf der Straße zu finden respektive am Büdchen.

„Ridendo corrigo mores“: Durch Lachen verbessere ich die Sitten.

Samstag, 17. Dezember

Der öffentliche Raum spricht nicht immer deutsch zu uns. Wann immer einen der Urlaub oder ein anderer Anlass in ein Ausland führt, dessen Sprache man nicht beherrscht, ist man froh, wenn man die vielen Botschaften im Schilderwald zumindest in den Grundzügen dechiffrieren kann. Feinheiten, Doppeldeutigkeiten und andere Quellen der Freude entgehen einem dabei zumeist. Alt wie ich bin, war ich noch nie irgendwo, wo nicht nur eine andere Sprache, sondern auch eine andere Schrift im Einsatz ist. Hier stelle ich mir die Orientierung besonders herausfordernd vor. Nichtsdestotrotz mache ich auch im Urlaub manchmal ein Foto. Das folgende entstand in Italien, wo man bei der Verkehrserziehung ganz anders ansetzt als hierzulande. Wo bei uns ein nüchternes, diskret platziertes und rein grafisch informierendes Verkehrszeichen den Behindertenparkplatz als solchen ausweist, werden dort potenzielle Falschparker recht massiv bei ihrem (schlechten) Gewissen gepackt und regelrecht emotional erpresst.

„Wenn Sie meinen Parkplatz wollen, dann nehmen Sie auch mein Handicap.“

Ich bin noch unsicher, wie ich das finde. Daher frage ich mich, ob es Zahlen gibt, die für die Effektivität der Maßnahme sprechen. Ansonsten ist die sprachliche Freude beim Auslandsaufenthalt ja meist auf Übersetzungsfehler in Speisekarten („Salat Capricciosa – Verrückter Salat“) beschränkt und auf Dinge, die man nicht versteht, die deutsch interpretiert aber irgendeinen schönen Unsinn ergeben. Auch da habe ich natürlich noch was im Fundus.

„Ihr Kinderlein kommet“: Das italienische Synonym für Kinder erscheint mir mehr als einleuchtend.

Sonntag, 18. Dezember

Die Zeit rast. In knapp einer Woche ist schon Heiligabend, und in deutschen Wohnzimmern, so will es das Klischee, glänzen wieder überall Kinderaugen unter festlich geschmückten Weihnachtsbäumen. Unseren eigenen Baum haben wir gestern gekauft, und dann, ich gebe es zu, auch gleich geschmückt. Angesichts der Tatsache, dass es keinen Nachwuchs im Haushalt gibt, halte ich diese etwas verfrühte Inbetriebnahme für vertretbar. Im Nachbarhaus im Hochparterre glitzerte allerdings schon am 4. Dezember eine voll lamettierte Nordmanntanne durchs Fenster der auch sonst üppig mit jahreszeitlicher Zusatzbeleuchtung versehenen Stube. Ich nahm dies zum Anlass, einmal mehr zu beweinen, dass das liebe Christfest wie viele anderen Feste immer mehr zu einem reinen Deko-Anlass verkommt. (Nur das kommerzielle Potenzial von Pfingsten hat bis heute noch niemand entdeckt.) Doch Lamentieren hilft ja nie. Ich begegne der Misere daher lieber mit dem vielleicht schönsten Motiv dieses Adventskalenders: dem Anti-Christbaum.

"O Tannenbaum, o Tannenbaum,
du kannst mir sehr gefallen;
wie oft hat nicht zur Weihnachtszeit
ein Baum von dir mich hoch erfreut."

An einer Bonner Ausfallstraße in Richtung Voreifel bringt diese Buche ihre böse Botschaft unters fahrende Volk, und als ich sie im Mai das erste Mal erblickte, zog mich das Rätsel sofort in seinen Bann. Wer hatte hier den Pinsel geführt? Krankes Hirn oder Spaßvogel? Und an wen war diese ebenso rohe wie unmissverständliche Anstiftung zum Mord gerichtet: an mich oder an den Baum? Wenn Letzteres: Was war dann man mit „mein Freund, der Baum“? Und wie sollte ein Mensch nun jemals wieder arglos Bäume umarmen? Auch der Begriff „Waldsterben“ erschien plötzlich in ganz neuem Licht? Dies alles waren Glieder in der Assoziationskette, die der Anblick dieses bedrohlichen Grafittos unmittelbar in Gang setzte. Bis heute fragt sich die langjährige True-Crime-Rezipientin in mir, ob aufgrund dessen irgendwo vielleicht jemand just in diesem Moment, ohne es zu wissen, in Lebensgefahr schwebt oder ob sich vielleicht tatsächlich schon irgendwo ein Verbrechen ereignet hat, das mit dieser mysteriösen Aufforderung in Verbindung steht. Daher kann ich heute nicht anders, als mit dem bekannten Appell meiner Lieblings-TV-Sendung zu enden: Wer sachdienliche Hinweise machen kann, die zur Ergreifung des Täters oder zur Aufklärung dieses Rätsels führen, wendet sich bitte an die zuständige Forstaufsichtsbehörde oder eines unserer Aufnahmestudios.

Montag, 19. Dezember

Wenn man auf der A8 von München in Richtung Salzburg unterwegs ist, kann man irgendwann rechts die Abfahrt nach Übersee nehmen. Tut man dies, kommt man nicht etwa irgendwo jenseits eines Ozeans heraus, sondern in einem kleinen Ort am Chiemsee. Ich gebe zu, auch an solchen Ortsnamen kann ich auf öden, endlos langen Urlaubsfahrten Freude entwickeln. Dieses harmlose kleine Vergnügen teile ich mit vielen Mitmenschen. Nicht allen reicht jedoch der Anblick der Schilder. Was man liest, werden die Ortschilder von besonders markant, wenn nicht gar obszön benamten Gemeinden regelmäßig von Unholden abgeschraubt und gestohlen. So etwas würde ich nie tun. Aber ein Foto mache ich schon manchmal.

„Midden in de winternacht, ging de hemel open. Die ons heil der wereld bracht, antwoord op ons hopen“: Das singt man in Nummer een an Weihnachten.

Bei diesem Schild hat mich der Pragmatismus beeindruckt, der bei der Namensgebung ganz offensichtlich gewaltet hat. Einfach „Nummer eins“. Wenn man nach diesem Schema fortführe, würde man gar keine Ortsnamen mehr brauchen. Es wäre praktisch so ähnlich wie in Mannheim, wo ja in einem großen Teil der Innenstadt auf Straßennamen verzichtet wurde, und die Bürger und Geschäfte einfach in D2 oder L3 ansässig sind. Interessant fand ich im Mannheimer Fall, dass sich dies nicht irgendein Technokrat und Stadtplaner des 20. Jahrhunderts ausgedacht hat, sondern das System der Planquadrate schon im 17. Jahrhundert eingeführt wurde. Nichtsdestotrotz ist das Praktische ja nicht immer auch das Schöne, und ich persönlich weiß es aus den erwähnten Gründen durchaus zu schätzen, wenn ein Ort nicht nur schön ist, sondern auch schön heißt.

Zusammen mit ein paar Allgäuer Büble lohnt sich ein Aufenthalt hier immer.

Dienstag, 20. Dezember

Was das Vorkommen und die Arten von Schrift im öffentlichen Raum angeht, so gibt es enorme Unterschiede zwischen Stadt und Land. Ob Grafitti, Werbeplakate, ja sogar Verkehrsschilder: Von allem gibt es deutlich weniger in Weiler, Dorf und Bauerschaft. Alle, deren Glücksquelle Achtsamkeit heißt, dürften das als Wohltat empfinden. Als Kind vom Lande weiß ich, dass damit auch eine geistige Unterforderung einhergehen kann: Es gibt draußen einfach viel zu wenig zu lesen. Vielleicht ist das der Grund, aus dem mein Neffe und Patenkind aktuell ein recht seltsames Hobby pflegt. Der Knabe lebt in einem kleinen Dorf, und wie zu den meisten Kindern spricht auch zu ihm die Schrift im öffentlichen Raum (SIÖR) noch ganz besonders intensiv. Seit der Junge lesen kann, nimmt er eigentlich alles wahr, was draußen irgendwo geschrieben steht, und versucht, zu lernen und die Botschaften seiner Umgebung zu entziffern. Damit schlägt er nicht aus der Art. Ich erinnere mich daran, dass ich als Kind sogar die Hinweise zu den Inhaltsstoffen auf Shampooflaschen studiert habe. Daher beunruhigt es mich nicht im Geringsten, dass der Bub beim Spazierengehen nur selten den Kopf hebt, um die Schönheit der ihn umgebenden Welt zu bestaunen, sondern den Blick stets auf den Boden gerichtet hält. Denn er ist auf der Suche nach Gully-Deckel und liest mit Hingabe die Namen der einzelnen Hersteller – eine Form von SIÖR, die uns hier sonst völlig entgangen wäre. Aus seinem schieren Erstaunen über die in der Tat enorme Fülle von Namen und Fabrikaten ist sogar ein kleines Lied geworden. Es beginnt mit den Worten „Passavant, Gussarmaturenwerkwerk Kaiserlautern …“ Ja, das mag mancher seltsam finden. Ich als stolze Tante denke aber im Stillen, dass normale Kinder später auch nur normale Dinge tun werden, und habe ihm aus dem letzten Urlaub natürlich auch etwas mitgebracht.

Hier würde jetzt natürlich „Aram sam sam“ gut passen, aber zur Weihnachtszeit in Palma singen wir natürlich „Feliz navidad, feliz navidad, prospero año y felicidad“.

PS: Weil ich weiß, dass dieses Urlaubsfoto alle anderen nicht in gleichem Maße erfreut, habe ich noch mal in meinen Alben geblättert und dort auch dieses gefunden.

Wer wollte sich da entscheiden?

Mittwoch, 21. Dezember

Wer in den letzten Tagen die Nachrichten aufmerksam verfolgt und dabei auch die Boulevardpresse nicht ausgespart hat, der konnte Antwort erhalten auf eine Frage, von der ich mir nie hätte vorstellen können, dass sie irgendwen tatsächlich umtreibt. Sie lautet: Hätte Leonardo di Caprio alias Jack Dawson am Ende des Films „Titanic“ nicht überleben können, indem er sich ebenfalls an der rettenden Planke festgehalten und sie nicht seiner großen Liebe Rose aka Kate Winslet alleine überlassen hätte? Wozu es gut sein soll, das zu wissen, erschließt sich mir angesichts der doppelten Fiktionalität nicht. Nichtdestotrotz wurden schon mehrere aufwendige Selbstversuche unternommen, um die Frage endlich zu klären. Den letzten, auf den sich die aktuellen Meldungen bezogen, hat „Titanic“-Regisseur selbst beauftragt und gefilmt: eine „gründliche forensische Analyse mit einem Unterkühlungsexperten, der das Floß aus dem Film reproduziert hat“. Anlass der Meldung und sicher auch des Experiments war die Tatsache, dass der weltberühmte Streifen am 19. Dezember vor 25 Jahren Premiere feierte. Wir sind damit zwei Tage zu spät dran. Aber das ist nicht weiter schlimm. Denn hier soll es ja gar nicht um die „Titanic“ gehen, sondern um die „Andrea Doria“, das andere untergangene transatlantische Passagierschiff, das große popmusikalische Spuren gezeitigt hat, dies allerdings schon deutlich früher als die „RMS Titanic“. Denn als Celine Dion das erste Mal zur Panflöte „Every night in my dreams …“ ins Mikro hauchte, war Udo Lindenbergs „Andrea Doria“ schon fast 25 Jahre alt. In dem Song des alten Panikrockers geht es zwar gar nicht um das italienische Linienschiff, das im Juli 1956 vor der Küste von Nantucket gesunken war, aber den Namen kennt seitdem hierzulande trotzdem jeder. In Italien scheint er allerdings andere Assoziationen hervorzurufen. Oder hätte man sonst ausgerechnet den Weg zum Hafen (eine Einbahnstraße noch dazu) „Via Andrea Doria“ genannt? Als deutscher Urlauber jedenfalls geht man hier nicht ganz so leichtherzig an Bord, und auch den kleinen, nachträglich angebrachten Totenkopf kann man da leicht als Omen verstehen.

Es gibt auch ein Weihnachtslied zu diesem Themenkomplex. Es stammt - natürlich - von Freddy Quinn, und Hartgesottene können es sich hier anhören: https://www.youtube.com/watch?v=Kppi58rKdRM

Donnerstag, 22. Dezember

In den vergangenen Wochen haben wir uns dem Sujet des diesjährigen Adventskalenders, der „Schrift im öffentlichen Raum“ (SIÖR), aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln genähert. Wie es passieren konnte, dass wir dabei einen ganz zentralen Aspekt komplett vergessen haben, kann ich mir selbst nicht erklären. Dies umso weniger, als das Thema, das hier berührt ist, in den aktuellen Diskursen unserer Gesellschaft einen so breiten Raum einnimmt wie kaum ein anderes. Doch Gott sei Dank wurde das Manko noch rechtzeitig bemerkt, und so stellen wir uns heute der*die Frage: Ist die SIÖR eigentlich männlich oder weiblich? Die Antwort wird niemand verwundern: Es müsste im Grunde „der SIÖR“ heißen. Denn unter all den Schriftzügen, die wir hier gesehen haben, waren außer „Jennys Gerüchteküche“ und dem „Glücksdepot“ keine, die eindeutig auf eine weibliche Autorenschaft schließen ließen. Besonders augenfällig wird die männliche Dominanz im öffentlichen Schriftraum in der Kategorie „Grafitti“, die sich wiederum in unzählige Unterarten unterteilt. Eine davon wurde hier schon kurz gestreift, das sogenannte „Style Writing“ nämlich. Was darunter zu verstehen ist, habe ich heute noch mal in der Wikipedia nachgelesen, und nach der Lektüre muss ich sagen: Die Tatsache, dass man den eigenen Namen schreiben kann, so theoretisch und ästhetisch zu überhöhen, das bringen nur Männer fertig. Nichtsdestotrotz bin ich ziemlich sicher, dass wir auch heute wieder die Botschaft eines Mannes sehen, eines unglücklich verliebten noch dazu:

Dort, wo dieser Anonymus veröffentlicht, habe ich privat öfter zu tun, und inzwischen kenne ich seine Handschrift auch ganz gut. Meist widmet er sich der Kunst der Elision, also der Entvokalisierung von Wörtern, einer sprachlichen Straßenmode, für die es erstaunlicherweise bis heute keinen griffigen Fachbegriff gibt. Aus seiner Feder stammt auch das folgende kleine Rätsel, bei dem ich bis heute nicht weiß, wie das erste Wortgerüst so zu dechiffrieren wäre, dass es in die Reihe der übrigen passt. Sollte hier jemand helfen können: Immer zu!

„Zmb, zmb, wlch n Sngn, zmb, zmb, Whnchtszt.“

PS: Im Baumarkt falle ich beim Lesen immer wieder auf das folgende Schild herein. Ist das nun Folge meiner rein weiblichen Perspektive oder der aktuellen gesellschaftlichen Diskurse?

Freitag, 23. Dezember

Morgen endet die Vorweihnachtszeit, und auch in diesem Kalender beginnen nun die Aufräumarbeiten. Wie an jedem 23. Dezember summen wir daher das Lied vom Trödler Abraham, betreten die Resterampe und schauen uns um: Was ist noch übrig? Was muss weg? Liegen geblieben ist in diesem Jahr nicht allzu viel, aber was auch immer noch im Lager rumgammelt, jetzt hauen wir es raus! Da wären zum einen noch ein paar Restposten Friseurbedarf:

Dazu war ja schon alles gesagt.

Noch was vergessen?

Die Achtsamkeitsecke ist leider völlig geplündert. Übrig ist nur noch eine …

In der Kurzwarenabteilung dagegen liegt in der Ecke völlig unbeachtet noch ein ganzer Karton ungeöffneter Ideen. Man kann das Etikett nicht mehr richtig lesen, aber es steht irgendwas mit „Namen“ drauf. Beim Aufmachen purzeln einem die folgenden entgegen.

Ach, Bert Brust, meine alte Liebe, man hat dich inzwischen einfach abgerissen.

Ein Schlüsseldienst namens Riegel.

Frau Kerl und Herr Karl

Kleine Koalition: Adenauer und Brandt

Ähnlich schwer verkäuflich, daher heute besonders preiswert abzugeben wären auch noch ein paar rheinische Regionalia …

Böse Zungen haben es immer behauptet.

Ich auch.

… sowie ein paar Mundartgedichte:

So spricht ein echter Schweizer Döner-Imbiss.

Räselhefte sind dagegen völlig ausverkauft, und Special-Interest-Bedarf ist auch nur noch vereinzelt vorhanden, darunter:

Ein Jesus-Grafiti

Ein Fachgeschäft für (Blut-)Konserven

Ein Simultan-Übersetzer vom Grünen Hügel

Eine Leser-Reklamation aufgrund fehlerhafter Ware

Sowie natürlich die Botschaft aller Botschaften:

"Davon ich singen und sagen will"

Samstag, 24. Dezember

Die vierte Kerze ist ausgeblasen, heute wird der Christbaum angezündet. Auch dieser Adventskalender schließt deshalb bald seine Türchen. Zuvor allerdings müssen wir noch eines öffnen, das letzte nämlich, das traditionsgemäß den Höhepunkt setzen muss. Hinter der 24 steckt immer das größte Stück Schokolade, das schärfste Grillgewürz, das tiefsinnigste Achtsamkeitskärtchen. Hier abzuliefern, wird schwer, denn auf unserer kleinen Wanderung durch den Schilderwald haben wir in den letzten Wochen wirklich Erstaunliches gesehen und gelesen. Das ist so nicht mehr zu toppen. Und doch muss sich das heutige Türchen keinesfalls verstecken. Denn wie ein Stern einst die Hirten führt uns heute ein Schild mitten hinein in die Stadt Davids, quasi direktemang an die Krippe. Mehr kann Schrift im öffentlichen Raum zu Weihnachten nicht leisten!

"Im Bethlehem geboooren ..."

An dieser Stelle kann ich die LeserInnen nun guten Gewissens zurücklassen und mich ein leises „Oh, du fröhliche“ summend aus dem Kalender verabschieden. Zuvor aber bedanke ich mich bei allen, die in den letzten Wochen hier ab und zu vorbeigeschaut haben, und wünsche euch und Ihnen allen:

Frohe Weihnachten!

3 Kommentare zu „Adventskalender 2023

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