Adventskalender, Dienstag, 20. Dezember

Was das Vorkommen und die Arten von Schrift im öffentlichen Raum angeht, so gibt es enorme Unterschiede zwischen Stadt und Land. Ob Grafitti, Werbeplakate, ja sogar Verkehrsschilder: Von allem gibt es deutlich weniger in Weiler, Dorf und Bauerschaft. Alle, deren Glücksquelle Achtsamkeit heißt, dürften das als Wohltat empfinden. Als Kind vom Lande weiß ich, dass damit auch eine geistige Unterforderung einhergehen kann: Es gibt draußen einfach viel zu wenig zu lesen. Vielleicht ist das der Grund, aus dem mein Neffe und Patenkind aktuell ein recht seltsames Hobby pflegt. Der Knabe lebt in einem kleinen Dorf, und wie zu den meisten Kindern spricht auch zu ihm die Schrift im öffentlichen Raum (SIÖR) noch ganz besonders intensiv. Seit der Junge lesen kann, nimmt er eigentlich alles wahr, was draußen irgendwo geschrieben steht, und versucht, zu lernen und die Botschaften seiner Umgebung zu entziffern. Damit schlägt er nicht aus der Art. Ich erinnere mich daran, dass ich als Kind sogar die Hinweise zu den Inhaltsstoffen auf Shampooflaschen studiert habe. Daher beunruhigt es mich nicht im Geringsten, dass der Bub beim Spazierengehen nur selten den Kopf hebt, um die Schönheit der ihn umgebenden Welt zu bestaunen, sondern den Blick stets auf den Boden gerichtet hält. Denn er ist auf der Suche nach Gully-Deckel und liest mit Hingabe die Namen der einzelnen Hersteller – eine Form von SIÖR, die uns hier sonst völlig entgangen wäre. Aus seinem schieren Erstaunen über die in der Tat enorme Fülle von Namen und Fabrikaten ist sogar ein kleines Lied geworden. Es beginnt mit den Worten „Passavant, Gussarmaturenwerkwerk Kaiserlautern …“ Ja, das mag mancher seltsam finden. Ich als stolze Tante denke aber im Stillen, dass normale Kinder später auch nur normale Dinge tun werden, und habe ihm aus dem letzten Urlaub natürlich auch etwas mitgebracht.

Hier würde jetzt natürlich „Aram sam sam“ gut passen, aber zur Weihnachtszeit in Palma singen wir natürlich „Feliz navidad, feliz navidad, prospero año y felicidad“.

PS: Weil ich weiß, dass dieses Urlaubsfoto alle anderen nicht in gleichem Maße erfreut, habe ich noch mal in meinen Alben geblättert und dort auch dieses gefunden.

Wer wollte sich da entscheiden?

Ein Kommentar zu „Adventskalender, Dienstag, 20. Dezember

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  1. „Ich als stolze Tante denke aber im Stillen, dass normale Kinder später auch nur normale Dinge tun werden“ – wie wahr und wie wunderbar formuliert, liebe Birgit!

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