Böses

Die Wollmilchsau bleibt nicht bei ihren Leisten

„Seit über 240 Jahren betten wir deine Füße. Jetzt bist du dran.“ Mit dieser Anzeige droht das Familienunternehmen Birkenstock, die Menschheit in Zukunft nicht mehr nur mit abartig hässlichen Sandaletten zu beglücken, sondern auch mit gänzlich neuen Produkten: mit Lattenrosten, Matratzen und Betten. Dass das Wortspiel, das uns von der Verbindung zwischen alt und neu, also von dem schlichtweg Zwingenden des Unterfangens überzeugen soll, klingt, wie von einer niedrigpreisigen Werbeagentur in einer sehr, sehr anstrengenden Sitzung herbeischwadroniert – geschenkt! Aber dass sie bei Birkenstocks jetzt auch das machen, was alle machen, das möchte ich auf meinem Weg zur führenden Kapitalismuskritikerin doch einmal kurz öffentlich anprangern! Die BWL nennt dieses Phänomen „Brand Extension“ oder „Markendehnung“, ich nenne es „die neue Unersättlichkeit“. Doch egal, wie es heißt, ist man einmal dafür sensibilisiert, kann man es überall beobachten: Bei meinem Bäcker gibt es neben Brot und Kuchen heute auch Zeitschriften und Eier, dafür hat der Metzger nebenan auch belegte Brötchen und einen kantinenähnlichen Mittagstisch. Snickers wird nicht mehr nur als Schokoriegel, sondern auch als Eis verkauft (worauf sich Magnum gerächt hat und eine Schokolade geworden ist). Bei GMX gibt´s inzwischen nicht mehr nur E-Mail-Services, sondern erstaunlicherweise auch Strom, während Rewe und Penny neben Möhren und Maggi inzwischen auch Reisen vertickern.

Bei Aldi wiederum liegen neben Konserven und Tiefgefrorenem unter anderem auch Versicherungs- und Handy-Verträge im Regal. Handys, Tarife und Telefone allerdings verkaufen heute eigentlich alle, sodass dem ortsansässigen Telefonanbieter und einstigen Monopolisten nichts anderes übrig bleibt, als seinerseits auch irgendwem anders das Wasser abzugraben und als Magenta-TV Filme zu drehen und zu senden. Ob das etwas nützt, ist allerdings fraglich, denn die meistgesehenen Serien kommen dieser Tage ja nicht mehr von TV, ARD und ZDF, sondern von Amazon, wo man einstmals eigentlich nur angetreten war, um Bücher loszuschlagen.

Doch das ist lange her, und es scheint, als ob sich heute alle ein schlechtes Beispiel an Amazon nehmen und dem Feind kein einziges Auge mehr gönnen wollen. Jeder will das ganze Geschäft alleine machen, keiner kriegt den Hals mehr voll. So fegt der Tsunami des Turbokapitalismus durch unsere (Geschäfts-)Welt, und mindestens ebenso stark wie die Globalisierung geißelt auch die zunehmende Gierisierung die Menschheit, ihre Geldbörsen und ihre friedliche Koexistenz.

In dem 2000-Seelen-Dorf, aus dem ich stamme, war in meiner Kindheit Platz und offensichtlich auch Verdienst genug für sage und schreibe: drei Bäckereien, zwei Metzger, vier Lebensmittelgeschäfte, einen Haushaltswarenladen, ein Bekleidungsgeschäft, ein Zeitungs- und Zigarettenlädchen, ein Schreibwarengeschäft, einen Schuster, zwei Friseure, zwei Gärtnereien, eine Postfiliale, eine Bank, eine Tankstelle mit Werkstatt, ein Hotel und sechs Kneipen. Nun ist Handel freilich Wandel und das Fachgeschäft ein aussterbendes Gewerbe. Doch ich stamme halt aus dieser Zeit und Welt und glaube an Fachmannschaft, an Können und Expertise als Grundlage und Voraussetzung von Handwerk und Geschäft.

Und wohl deshalb löst die neue Alleskönnerei in mir ein Grundgefühl aus, mit dem ich eigentlich nicht durch diese Welt gehen möchte: Paranoia. Ich wähne überall minderwertige Waren und Dienstleistungen und habe in der Folge das permanente Gefühl, dass mich alle betrügen und ausnehmen wollen. Denn wie soll mein volatiles Ich in puncto Strom zum Beispiel einem Lieferanten vertrauen, dessen Kernkompetenz im Bereich E-Mail liegt und dem noch nicht mal die Stromkästen und Leitungen gehören? Aus diesem Grund bleibe ich dann bei den Stadtwerken, ärgere mich aber mit jeder Monatsrechnung über die höheren Preise, während an meiner Kaufentscheidung gleichzeitig auch der Zweifel nagt, ob die Stadtwerke-Expertise diesen Preisunterschied tatsächlich rechtfertigt.

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Ob diese schöne Form der Markendehnung wohl auch Erfolg haben könnte?

Am besten illustrieren lässt sich das miese Gefühl, das das Shopping in den neuen, undurchsichtigen Tausendsassa-Zusammenhängen auslöst, vielleicht am Beispiel von Tankstellenblumen. Wer – aus welcher Verlegenheit auch immer – schon einmal Billo-Blumen an der Tanke gekauft hat, der weiß, dass das Sträußchen von der Benzinstation nichts ist, was man frohen Herzens überreicht, nichts gefühlt Schönes oder Wertvolles, sondern ein steter Quell schlechten Gewissens und ein Symbol gewordener Ausdruck von Lieb- und Stillosigkeit. (Dabei sind diese Gebinde eigentlich meist auch nicht viel schlechter als die, die in exklusiverem Umfeld offeriert werden.)

Aber auch sonst sind wir im Zusammenhang dieser Ausführungen an der Tankstelle genau richtig. Denn dieser meist Tag und Nacht geöffnete Warenumschlagplatz ist ja der Kulminationspunkt der hier beschriebenen merkantilen Ent- und Verwicklungen. Die Tankstelle ist quasi die hochgezüchtetste all der neuen kommerzgetriebenen Wollmilchsäue. Denn das einstige Treib- und Schmierstoff-Fachgeschäft ist inzwischen oft ja Supermarkt, Schnellimbiss und Café, Zeitungskiosk, Buchladen, Blumengeschäft, Spielothek, Postagentur und manches mehr in einem. Das stört im Übrigen nicht nur konservative Konsumenten wie mich, sondern auch alle, die es eilig haben. Denn es sind ja nicht nur Habgier, Profitsucht und Konkupiszenz, die an den Zapfsäulen des Spätkapitalismus ins Unermessliche wachsen, sondern auch die Schlangen vor den Kassen. Wer nur mal schnell tanken wollte, wo der Vordermann auch einen Caffè Latte und ein noch zu schmierendes Schnitzelbrötchen bestellt hat, der weiß, wovon ich rede. Oder anders: Spätestens an jenem Tag, an dem es bei Shell, Aral und Esso auch Damen- und Herrenoberbekleidung gibt, werde ich es nicht mehr hinnehmen, dass ich mein Benzin nirgendwo anders kaufen kann. cropped-scan_0001paintfotor_fotor2.jpg PS: Ursprünglich wollte ich eigentlich über Birkenstocks schreiben, diese Schuhe, die neu schon so aussehen, als würden sie riechen. Selbstverständlich wollte ich dabei mein vollkommenes Unverständnis darüber ausdrücken, dass ich in diesem Sommer kaum einen U-30-Fuß sah, der nicht in einem dieser Gesundheitstreter steckte. Da alle anderen juvenilen Trendsetter in Adiletten daherkamen, wäre eine weitere wichtige Überlegung gewesen, was von einer Generation zu erwarten ist, die in ihrem ästhetischen Empfinden Öko-Optik und Spießer-Style versöhnt. Ja, da hätte eine böse alte Frau schön schimpfen können. Nichtsdestotrotz war ich angesichts all der Birkenstocks mit Glitzer, in Rosa und Gold und anderen schlimmen Farben eigentlich ziemlich sicher, dass man sich in Neustadt/Wied gerade dumm und dämlich verdient. Umso unfassbarer respektive unanständiger fand ich da, was die neuen Birkenstock-Betten kosten: zwischen 5.000 und 12.000 Tacken!

Second Service auf dem Center Court des Lebens

Am 13. August 1999 erklärte Stefanie Maria Graf nach einer Niederlage beim WTA-Turnier in San Diego ihren sofortigen Ausstieg aus dem Profi-Tennis und beendete damit eine Tenniskarriere, die bis heute beispiellos ist. Damals war sie 30 Jahre alt, und wer rechnen kann, der ahnt: Dieses Jahr wird sie auch schon 50. „Kinder, wie die Zeit vergeht!“, möchte eine alte Frau da wieder einmal rufen und anschließend die beiden Jahrestage angemessen feiern. Doch die Jubiläumsfreude ist getrübt: „Steffi Graf: Ihr Erfolg hat sie gezeichnet“. Unter Schlagzeilen wie dieser war vor Kurzem von einem Interview mit einem US-amerikanischen Magazin zu lesen, in dem die Gräfin von den gesundheitlichen Problemen berichtete, mit denen sie ihre spektakulären Siege bezahlt hat.

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Steffi Graf nach ihrem letzten Sieg am 5. Juni 1999 bei den French Open in Paris.

Knie und Hüfte und Rücken, alles im Eimer. Von Boris Becker weiß man Ähnliches (seine deformierten Ellbogen aber sind, so spekuliert der Boulevard, allein die Folge exzessiven Pokerns). Eine solche Ballung ernsthafter Gebresten ist natürlich schlimm, und ihre Inhaber sind bedauernswert. Wer wüsste das besser als der etwas ältere Mensch. Doch gerade in Zeiten der Midlife-Inventur ist selbiger mit sich selbst und anderen nicht immer gnädig. Noch dazu neigt er in dieser Zeit mehr noch als sonst zu dem unseligen Vergleichen und dazu, rückwirkend biografisch Sinn zu stiften, das Scheitern also mithin deutend zu wenden, getrieben von dem ebenso absurden wie verzweifelten Verlangen, selbst das Falsche einst richtig gemacht zu haben (zumindest aber nicht ganz schlecht).

Dereinst in der Jugend war auch ich dem weißen Sport recht zugetan (und diese Liebe wurde durchaus erwidert). Jedoch es fehlte wieder einmal die Disziplin, und mehr noch als am Wochenende des Morgens die einen besiegen, wollte ich des Abends mit den anderen feiern. So wurde ein vielversprechendes Talent um seine Karriere und zweifelsohne auch um eine Heidenmenge Geld gebracht. Statt Ruhm und Reichtum und Weltranglistenplätzen bekam ich nur ein Studium der Germanistik und muss nun schon seit vielen Jahren ordentlich rackern, um auf dem täglich Brot manchmal auch ein bisschen Trüffelbutter zu haben.

Aber weil ich mich so auch jahrelang statt am Rothenbaum am Schreibtisch aufgehalten habe, hat noch kein Arzt je zu mir von Patella, Prolaps und Pelvis gesprochen. Und nachdem ich lange genug gewartet habe, ist es nun die alte Binse, dass gesunde Knie, ein intakter Rücken und eine schmerzfreie Hüfte nicht mit Immobilien, Pelzmänteln, Traumurlauben, Aktiendepots und Sportwagen aufzuwiegen sind, die mich im Vergleich mit Steffi und Boris vielleicht doch nicht allzu schlecht dastehen lässt (im Vergleich zu Boris fallen mir noch andere Dinge ein).

Jedoch das Allerbeste ist: Meine Tenniskarriere ist noch nicht vorbei. Ja, sie hat im Grunde gerade erst begonnen. Denn vor etwa einem Jahr habe ich meinem bis dato weitgehend sinnlosen, verfehlten Leben eine neue Richtung gegeben und mit der Schnuppermitgliedschaft im führenden Tennisclub am Ort sportlich und existenziell alles noch mal auf null gesetzt. Ich weiß, in einer ordentlichen Midlifecrisis gehört es sich eigentlich, in einem einzigartigen Moment hellsichtiger Rücksichtslosigkeit Mann, Frau und sämtliche Kinder zu verlassen und mit einem schönen jungen Menschen nach New York oder Montevideo durchzubrennen. Doch das ist offensichtlich nicht mein Weg. Ich bin einfach nach Hause zurückgekehrt.

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Der ältere Mensch braucht zum Tennisspiel mehr Hilfsmittel als nur Bälle und Schäger.

So ähnlich jedenfalls fühlt es sich an, wenn ich heute an einem schönen Frühlings- oder Sommermorgen auf dem roten Sand ein paar Bälle spiele, während in den hohen alten Bäumen ringsum Amsel, Drossel, Fink und Star zwitschern und oben am blauen Himmel der Mäusebussard kreist. Ja, da ist auch viel Glück dabei. Doch wie in jedem Paradies dauert es auch in diesem nicht lange, bis man über die ersten Schlangen stolpert. Denn zum einen ist der Mensch im Verein nur selten alleine, und zum anderen nimmt man ja auch sich selbst überallhin mit.

Ich selbst aber habe in den letzten Jahren vor allem Mannschaftssport betrieben und dabei spät im Leben noch Erstaunliches gelernt, nämlich dass man Leute gar nicht sympathisch finden muss, um mit ihnen zusammen ebenso gewinn- wie freudebringend Fuß- und andere Bälle in ein Tor oder eine ähnliche Vorrichtung zu befördern. Ja, ich erinnere mich sogar an mehr als drei Fälle, in denen ich Mitmenschen, die ich zuvor allenfalls mittelgut leiden konnte, beim gemeinsamen Spiel richtiggehend schätzen gelernt habe (es war sogar eine Schwäbin darunter). Beim Tennis ist es eher andersherum. Tennis ist ein Ego-Sport, der einen recht schnell auch recht gut mit den Egos der anderen bekannt macht. Ich möchte mich hier nicht ausnehmen. Gleichwohl finde ich dies manchmal schwierig.

Erschwerend hinzu kommt, dass ich schon wieder den nötigen Ehrgeiz vermissen lasse, während alle anderen ringsum längst in Richtung Seniorenweltmeisterschaft trainieren. Denn im Tennis gibt es selbst für die Hochbetagtesten noch Mannschaften und Ligen und Wettbewerbe. Und so droht mein ursprünglich so schöner Plan, nun von allem Leistungsdruck befreit einfach bis ans Ende meiner Tage entspannt dem schönsten Sport der Welt zu frönen, ganz ähnlich wie der Weltfrieden letztlich an der Unabänderlichkeit der Conditio Humana zu scheitern, an dem unbestreitbaren Übel nämlich, dass der Mensch es nie leid wird, sich zu messen, den Mitmensch bis aufs Blut zu bekämpfen und ihn in einer letzten großen Demütigung niederzuringen.

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Der ewige Kampf Gut gegen Böse.

Die Frage ist nun, ob ich mich diesmal dem Wettbewerb stelle und den Kampf aufnehme gegen all die vielen anderen Achtzigerjahre-Talente, die derzeit in lebensalterbedingter Ermangelung anderer Ziele einen zweiten Anlauf auf dem Center Court der Jugendträume wagen. Denn Steffi Graf und Boris Becker haben mit ihren Erfolgen vor mehr als 30 Jahren in der Generation der Babyboomer ja auch einen enormen Tennis-Boom ausgelöst, in dessen Folge sich die Zahl der Mitglieder in den deutschen Tennisvereinen in den Achtzigern sage und schreibe verdoppelt hat: von einer Million zu Anfang der Dekade auf über zwei Millionen an deren Ende. Da sind die rund zehn Ex-Hoffnungen, die allein in meinem Bekanntenkreis in den letzten zwei Jahren – weitgehend unabhängig voneinander – den Weg zurück auf den Platz gefunden haben, vermutlich nur die Spitze des Eisbergs.

Der existenzielle Zwiespalt, in dem ich mich befinde, lässt sich am besten am Beispiel meines von jeher defizitären Rückhandspiels illustrieren: Soll ich in Zukunft die neue, zeitgenössische, recht plumpe, aber sehr effektive beidhändige Killer-Rückhand trainieren in dem Bestreben, die Konkurrenz baldmöglichst vom Platz zu fegen? Oder nutze ich die zweite Chance, die mir geschenkt ist, auf andere Weise und versuche, mit der Trainerin der Herzen stattdessen an der altmodischen einhändigen Rückhand zu feilen, die, so sie gelingt, an Eleganz und Schönheit nicht zu überbieten ist? Ich neige nicht wenig zu Letzterem, denn es waren neben diesem satten und zutiefst befriedigenden Plopp eines gelungenen Schlages ja vor allem die Schönheit und Eleganz dieses Spiels, die meine Zuneigung dereinst begründeten.

Doch wenn das Leben zum zweiten Mal aufschlägt, kann es natürlich nicht nur darum gehen, Altes zu vervollkommnen oder sich zu drücken. Es ist dann auch die Zeit gekommen, Neues zu lernen und zu wagen, zum Beispiel den Weg ans Netz, vor dem ich als junger Mensch immer so viel Angst gehabt habe. Ja, vielleicht hat mich das Schicksal nur wieder auf den Sandplatz geführt, damit ich mich selbst besiege? An den Sieg über andere kann ich jedenfalls angesichts der kärglichen Preisgelder im Senilenbereich meine Restgesundheit nicht verschenken. Überdies möchte ich (ich weiß es einfach nicht besser) auch den Spaß nicht verlieren. Immerhin haben nicht alle, die nach so vielen Jahren wieder den Kontakt zu ihrer Jugendliebe suchen, so viel Glück, und Leichtigkeit und Schönheit sind noch da. Das soll man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. So erteile ich also jedwedem sportlichen Darwinismus eine Absage, wage die Utopie und habe damit zum ersten Mal in meinem Leben auch einen Plan für die Zukunft (also für den Ruhestand): Wenn alles gut geht, verbringe ich die nächsten 30 Jahre auf dem Tennisplatz, bis ich mit ungefähr 90 dann tatsächlich altersbedingt abtrete und – so wie vor 20 Jahren Stefanie Maria Graf auf ihrer Abschiedspressekonferenz – erkläre: „Sportlich habe ich alles erreicht. Jetzt bin ich offen für Neues.“

cropped-scan_0001paintfotor_fotor2.jpg Einmaliger Zusatzservice für alle Freunde des 80er-Jahre-Damentennis: Phranc sings M.A.R.T.I.N.A.

Happyness flutsch, flutsch von vorn: Ich glotz von net nach flix

Als Kind war ich, was das Fernsehen betrifft, nicht besonders anspruchsvoll: Ich wollte eigentlich alles sehen. Ausnahmen waren nur sonntagsmorgens in der ARD der „Internationale Frühschoppen“ (das dürfte heute gar nicht mehr ausgestrahlt werden, so viel wie da früh am Morgen schon gesoffen und gequalmt wurde), samstagsnachmittags im ZDF „Yugoslavia Dobar dan“ und „Türkiye mektubu“, das Spartenprogramm für Gastarbeiter, und mittwochabends um 18 Uhr im Dritten das „Telekolleg Chemie“. Auch wenn ich keine dieser Sendungen je gesehen habe, so wären sie einem leidenschaftlichen Plädoyer für das Medium Fernsehen doch meine schönsten und schlagkräftigsten Argumente.

Und ein solches Plädoyer möchte ich manchmal halten, denn nicht nur Harald Schmidt betrachtet, wie unlängst zu lesen war, das Fernsehen als „Medium der Vergangenheit“. Auch zu mir sagte neulich am Abend in der Gastwirtschaft eine entfernt bekannte 30-Jährige mit der urteilsfreudigen Arroganz des jugendlichen Trendsetters: „Fernsehen? Das ist doch tot!“ Ich weiß das im tiefsten Herzen auch, aber so verachtungsvoll, wie sie es sagte, klang es, als wollte sie zusammen mit dem Fernsehen auch mich weghaben, mich und alle anderen toten Gestalten, die noch ein derart altmodisches Empfangsgerät besitzen und nicht selten auch allerlei veralteten und somit verabscheuungswürdigen Konzepten wie Sendern, Programmen, Grimme-Preis, Rundfunkgebühren und „Contrat social“ anhängen.

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Wum und Wendelin: In den Köpfen alter Menschen ist die Vergangenheit noch am Leben.

Die Kassandra-Rufe der Statistik künden schon lange deutlich davon, dass das alles einmal zusammen mit meiner Generation verschwinden wird. Denn es ist allein die Gruppe der Über-50-Jährigen, bei denen der Blick in den Kasten noch Konjunktur hat und die Sehbeteiligung ansteigt. (2018 waren es angeblich krasse 315 Fernsehminuten täglich. Mensch, Leute!) Alle anderen sehen immer weniger fern: Die 14- bis 29-Jährigen opfern dem TV schon nur noch 94 Minuten ihrer kostbaren Zeit pro Tag. Das heißt allerdings nicht, dass sie sich stattdessen auf das Leben aus erster Hand konzentrieren würden. Sie erhöhen lediglich die Konsumzeit für Netflix, YouTube und Co.

„Netflixen“ versus „fernschimmeln“: Mit dieser begrifflichen Opposition bringt die Jugendsprache den televisionären Trend auf den Punkt. Die wertenden Tendenzen in der Terminologie künden deutlich davon, dass jene, die sich dieser Neologismen bedienen, das eine für cooler halten als das andere. Doch ehrlich gesagt kann ich nicht erkennen, wo das Flixen sich vom Schimmeln unterscheidet. Solange der Inhalt scheiße ist und/oder der Konsum exzessiv, macht das Medium doch keinen Unterschied. Um weiter zu illustrieren, was ich meine, werfe ich in bester Seniorenmanier mal die Zeitmaschine an, reise zurück ins Jahr 1978 und lasse Nina Hagen für uns singen: „TV ist ´ne Droge, TV macht süchtig“, rotzt sie uns entgegen und verleiht damit der Medien- und Konsumkritik nicht nur des Punk deutlich angewiderten Ausdruck. Mir scheint hier immer noch eine gewisse Aktualität gegeben – und trotz 40 vergangener Jahre ein deutlich revolutionärer Ansatz im Generationenkonflikt. Denn anno 1978 lehnte die Jugend offensichtlich noch die Vorstellungen und Konzepte, ja das ganze Tun der älteren Generation ab und nicht nur deren Technologien. Die oben erwähnte Statistik dagegen lässt vor allem ja nur einen Schluss zu, nämlich dass heute auch die jungen nur immer älter werden, um noch mehr Zeit mit dem Betrachten von Bewegtbildern zu verbringen.

Dies erklärt aber auch, warum es mir so ganz besonders auf den Nerv geht, wenn ich von jungschen Schlaumeiern mit der mangelnden Modernität meiner Übertragungstechnik ausargumentiert, aufs Abstellgleis geschoben und von der Gestaltung einer besseren Welt und Zukunft ausgeschlossen werden soll. Denn ich werde ja ganz dringend noch gebraucht. Bleiben wir nämlich noch ein bisschen im Bild der Sucht, fällt der Systemvergleich gleich ganz anders aus, und mit Entsetzen und Erschrecken stellen wir fest, dass uns hier vier Dekaden mehr Menschheitsgeschichte und Evolution offensichtlich kein bisschen weitergebracht haben. Im Gegenteil: Die Lage an der Drogenfront hat sich verschärft. Alle wollen immer mehr und immer reineren Stoff. Im Fernsehen gibt es in der Regel nur eine Folge der Serie pro Woche, während man sich bei Netflix und den anderen amerikanischen Dealern an einem Abend die halbe Staffel reinstreamen kann (und das dann natürlich auch tut). Gegen die systemimmanente Suchtgefahr hilft im öffentlich-rechtlichen Fernsehen überdies auch die Vielfalt der Formate und Angebote. Denn solange es Sendungen wie „Kochen mit Moritz und Martina“ oder „Immer wieder sonntags“ gibt, ist hier der Entzug ja quasi schon eingebaut.

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Vier Tage, drei Länder, alle Programme, zwei Seiten: In meiner Kindheit und Jugend bestand allein schon deshalb keine Fernsehsuchtgefahr, weil die meiste Zeit gar nichts kam.

Nichtsdestotrotz ist es genau diese Vielfalt des Angebots, die mir das gute, alte, tote, deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen deutlich lieber sein lässt als jeden börsennotierten amerikanischen Streaming-Dienst. Denn wer den Rundfunkstaatsvertrag, diese mit jedem Jahr utopischer werdende Schrift, gelesen hat, der weiß: Es will mich bilden, mich aus der Unmündigkeit befreien, nicht mich mit einer Überdosis Unterhaltung abhängig machen und sodann bestmöglich abkassieren. An einem Abend im Fernsehen stoße ich manchmal aus dem Nichts und ohne dass ich es wollte auf eine Dokumentation, die mich zu bislang unbekannten Völkern in den brasilianischen Urwald entführt, wo ich dann gefesselt hängen bleibe, obwohl ich eigentlich nur auf der Suche nach einem geeigneten Einschlaf-Krimi war. Ich persönlich liebe ja genau diese Überraschungen (und die Gewissheit in den öffentlich-rechtlichen zumeist mit relativer Qualität und Seriosität unterhalten und informiert zu werden).

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Neulich vor dem Hauptquartier der Hochkultur.

Sicher, auch das öffentlich-rechtliche Bildungsparadies gibt´s nicht umsonst, der mündige Bürger trägt mit dem Rundfunkbeitrag seinen Teil zum televisionären Wohlstand für alle bei. Aber das Preis-Leistungs-Verhältnis erscheint mir nicht nur angesichts der Vielfalt der Formate, Stimmen und Perspektiven (und der immensen Anzahl an selbst produzierten Sendeminuten) deutlich überzeugender. Denn außer dem Besuch in der Abendschule sind ja auch Eintritt ins Konzert oder in die Oper, Reisen in alle Welt, Shows, Kinobesuche und natürlich auch zahlreiche Serien und Filme im Preis inbegriffen. (Gerade überlege ich, ob ARD, ARTE und Co. wohl bereit wären, mir ein paar Kröten für meine Dienste als Testimonial zu überweisen.)

Mit Interesse las ich neulich in einer großen deutschen Wochenzeitung (noch so ein aussterbendes Medium), dass es bei Netflix derzeit insgesamt nur 4.000 Filme gäbe, während eine von Filmliebhabern geführte – und inzwischen natürlich von der Schließung bedrohte – Berliner Videothek sage und schreibe 35.000 Titel in den Regalen hat. Kommerz und Kapitalismus verengen also nicht nur den Blickwinkel, sondern auch das Angebot, und das bei steigenden Preisen fürs Individuum. Ich meine, rechnen Sie doch einmal selbst: Netflix kostet je nach Stadium der Sucht 12 bis 16 Euro pro Monat. Weil man da aber nach ca. einem Jahr gefühlt schon alles gesehen hat, entsteht schlagartig das Verlangen, den eigenen Horizont für weitere acht monatliche Euro auf Amazon Prime auszuweiten. Lässt auch dort irgendwann die Wirkung nach, sind mit Sky, Maxdome oder Magenta TV aber jederzeit weitere Suchtschleifen möglich. Und am Ende hat der angefixte Trendsetter und stolze Serien-Junkie überall dasselbe gesehen, dafür aber deutlich mehr berappt, als die zurückgebliebene, technologisch abgehängte Fernsehgemeinde, deren sozialschwächste, unproduktivste Mitglieder im Übrigen vom Beitrag befreit sind. (Da fragt sich die bösartige alte Frau von heute natürlich sofort, ob Unternehmensleitbild und Ethikrichtlinien von Netflix und anderen Anbietern moderner Internetunterhaltung DAS auch hergeben.)

Nichtsdestotrotz kann ich natürlich verstehen, dass Menschen, die solch enorme Kosten stemmen müssen, um ihren Geist ausschließlich mit amerikanischen Hochwert-Serien zu füttern, es ablehnen, für etwas zu bezahlen, das sie als veraltet identifiziert haben und nicht mehr konsumieren. Aber über Rundfunkgebühren zu streiten, ist ja trotzdem immer noch ein bisschen wie Steuern diskutieren. Ich habe keine Kinder, und bin doch nicht dagegen, dass von meinem Geld Kitas gebaut werden. Man nannte es einmal Solidargemeinschaft. Andererseits ist es genau diese Idee eines gemeinsamen Programms, das die unterschiedlichen Interessen aller Bevölkerungsgruppen, -schichten und Lebensalter berücksichtigt und bedienen soll, die in den Zeiten von absoluter Individualität, weiter fortschreitender Ausdifferenzierung und zunehmender sozialer Zersplitterung vermutlich nicht mehr zu halten und zu realisieren ist.

Ob die modernste Antwort aber darauf ist, aus allen Sozialsystemen auszusteigen und amerikanischen (und sicher bald auch deutschen) Großkonzernen die ausschließliche Gestaltung unserer Sehgewohnheiten zu überlassen, diese Frage wird man als alte Frau doch wohl noch einmal stellen dürfen. Denn geblendet von der Hipness all der neuen Serienformate reden ja selbst die kritischeren unter den deutschen Medien derzeit eigentlich nur noch darüber, was denn jetzt seriell der allerneueste, allerheißeste Scheiß ist und wo man selbigen alsbald fresssuchartig konsumieren kann. Da braucht man doch Menschen und Frauen, die sich noch an Nina Hagen erinnern und mutig die Frage stellen, ob all das viele Geglotze wirklich das Ziel sein kann? Je näher man am Tod ist, umso mehr will man nämlich plötzlich noch aktiv unternehmen.

cropped-scan_0001paintfotor_fotor2.jpg Wenn schon, denn schon: Wolfgang Feindt und Klaus Bassiner gewidmet.

30 Jahre nach dem Mauerfall: Die Gabione muss weg!

Eigentlich könnten wir hier heute ganz schnell fertig sein. Nötig wären im Grunde nur zwei Sätze: „Das ist hässlich. Macht das weg!“ Aber mit derart glasklaren, objektiven Ansagen und Argumenten ist es meist ja nicht getan, wenn es darum geht, andere Menschen dazu zu bringen, sich von etwas zu trennen, für das sie einmal Geld ausgegeben haben. Damit der Mitmensch dem Bösen abschwört, müssen wir ihn vielmehr an der Wurzel seiner tieferen Gefühle packen und ihn recht heftig im Herzen bewegen. Es braucht, das lehrt uns seit Jahrhunderten die Dramentheorie, Furcht und Mitleid, Jammer und Schrecken, um das Publikum zu läutern und zur Katharsis zu führen. So will ich mir also Mühe geben, auf dass meine Worte zur Reinigung erst der Seele und sodann auch der Landschaft beitragen.

Der dazu nötige Schrecken ist schnell erzeugt: Hierzu reicht im Grunde ein einziger Blick auf jene Scheußlichkeit, die sich auf unserer schönen Erde derzeit schneller und flächendeckender ausbreitet als manches Unkraut, und das obwohl sie auch auf den zweiten Blick noch aussieht wie eine preiswerte Recycling-Maßnahme für Bauschrott. Repräsentanten dieser neuesten Erscheinungsform modernen Massengeschmacks stachen mir wohl schon tausenfach in die Augen, bevor Google mir heute erst ihren schaurigen Namen verriet: (Zaun-)Gabione.

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Mauerschau auf dem Gabione-Testgelände: Hier wird der Ernstfall simuliert.

Diese nicht selten mehr als  mannshohen Drahtkäfige, die mit grob behauenen Steinbrocken gefüllt sind, umgeben heute fast jedes zweite Eigenheim im Neubaugebiet auf dem Dorfe und im urbanen Vorort und verdrängen damit zunehmend Buchen-, Eiben-, Glanzmispel-, Rosen- und Buchsbaumhecken, Jägerzäune, schmiedeeiserne Handwerkskunst, gemütliche, kniehohe Steinmäuerchen sowie andere Einfriedungsmaßnahmen aus natürlichem Material und in meist menschenfreundlicherer Gestalt. Noch kenne ich Gott sei Dank niemand persönlich, der sich auf der nach oben offenen Skala potenziell möglicher Bausünden so weit vorgewagt und die Außengrenzen seiner Liegenschaften mit einem Bollwerk von derart beispielloser Hässlichkeit gesichert hätte. Trotzdem ist andernorts nicht zu übersehen, dass sich die Umsatzzahlen auf dem Steinkorb-Sektor derzeit prächtig entwickeln dürften. So prächtig, dass es einer bösen alten Frau vom Lande, durch deren Herz sich allenfalls eine sonnenwarme, moosbewachsene, von kleinen Eidechsen bevölkerte Bruchsteinmauer zieht, durchaus Kopfzerbrechen bereitet.

Die Frage, die sie sich in schlaflosen Vollmondnächten wieder und wieder stellt, lautet: Warum sind brave Bausparvertragler und ambitionierte Architektenhaus-Errichter gleichermaßen scharf auf eine bauliche Maßnahme, die aus dem trauten Eigenheim ein zweites Stuttgart-Stammheim macht, obwohl die meisten darin doch nur ein paar kleine Kinder oder Kätzchen großziehen möchten. Warum so wehrhaft und so widerwärtig? Wer soll hier ein-, was ausgesperrt werden? Und welche Botschaft sendet hier der Nächste seinem Nächsten, der seinerseits am Ende des Tages und der Woche nebenan zumeist doch auch nichts Hinterhältigeres plant, als ein bisschen zu gärtnern und zu grillen?

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Tristesse hinter Gittern: Willkommen in der Steinzeit!

Ein Grund, warum auf der Nachbarschaftsgrenze heute die Käfige in den Himmel wachsen, ist vermutlich dort zu finden, wo viele Dinge ihre Ursache haben: im Portemonnaie. Denn preiswerter als mit Hilfe von Gabionen ist der Hochsicherheitstrakt für den Hausgebrauch nicht zu errichten. Im Vergleich zu einer soliden, echten Mauer sind nämlich nicht nur die Materialkosten beim Gitterkörbchen viel geringer. Auch der Fachmann samt Wasserwaage, Maurerkelle und saftiger Rechnung wird beim Basteln mit Draht nicht gebraucht. Denn den werblichen Versprechungen der Gabione-Vertriebsexperten zufolge kann das moderne Mauerwerk auch im DIY-Alleingang errichtet werden. Weil für das spröde Gebilde dazu noch nicht einmal ein Fundament vonnöten ist, wird gleich dreifach gespart. Ja, Geiz ist geil. Aber – man kann es nicht oft genug sagen – hässlich ist er halt auch.

Kein Fundament, nur unschöner Schein: Dass in unserer oberflächlichen Zeit die potemkinsche Mauer den ebenfalls recht preisgünstigen Maschendrahtzaun abgelöst hat, muss jedoch noch andere Gründe haben als pekuniäre. Man muss kein großer Psychologe sein, um zu ahnen, dass eine derartig signalwirksame Abschottung auch mit Angst zu tun hat. My home is my castle: Früher war dies nur ein Sprichwort. Heute macht der Bürger ernst, wenn er sich in der Festung Europa nicht ausreichend sicher fühlt, und schützt seine Designer-Schrankwand, seine Alexa und seinen kinoleinwandgroßen Flachbildfernseher eben selbst gegen die marodierenden Massen. Dass die historischen Vorläufer der heutigen Gabione, die sogenannten Schanzkörbe, militärische Zwecke erfüllten und schon seit dem Mittelalter als Befestigungs- und Verteidigungsanlagen dienten, passt insofern doch bestens. (Heute würde ich allerdings eher von ästhetischer Kriegsführung sprechen.)

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Ich habe lange gezögert, das Wort zu verwenden, aber hier geht es nicht mehr anders: Augenkrebs, Augenkrebs, Augenkrebs!

Befestigungsanlagen im Wohngebiet, abweisende, undurchdringliche Mauern statt Plausch am Gartenzaun: Kommen wir final zum Mitleid. Ob solche schroffen baulichen Verhältnisse nicht auch schlimmste menschliche Kälte spiegeln und völlige soziale Isolation nach sich ziehen, ist eine Überlegung, die sich im Gabione-Land ebenso unweigerlich einstellt wie die Frage, ob den Bewohnern der Gated Community an Community überhaupt noch gelegen ist. Doch es ist nicht nur die drohende zwischenmenschliche Verarmung, die unser aller Mitleid wecken sollte. Viel schlimmer ist ja, dass die meterhohen Umzäunungen ihren Bewohnern auch die freie Sicht rauben.

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Vier Bilder in einem Beitrag, das gab es bisher noch nie.

Der Horizont etwa oder andere Regionen jenseits des eigenen Tellerrandes sind hinter all den Steinen nicht mehr zu sehen. Und so sind all die vielen Gabionen vor allem auch ein Ausdruck des Steinkorbs in den Köpfen ihrer Besitzer. Dabei sollten doch gerade wir Deutschen es eigentlich deutlich besser wissen als Donald Trump. Daher rufe ich im Frühling dieses Jahres, in dem sich gewisse historische Ereignisse zum 30. Mal jähren, allen Mitbürgern zu: Holt die Drahtschere und die Schubkarre, reißt die Gabionen ein und werft einen Blick über den Zaun in die Freiheit!

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Die Schönheit von Übergangsjacken

Der Mensch wird nackt geboren. Schon sehr bald darauf wird er aber – zumindest in unseren Breiten – von anderen wohlmeinenden Menschen maximal warm eingepackt. Das bleibt er dann ein paar Jahre, bis irgendwann endlich der Ausgang aus der textilen Unmündigkeit und Fremdbestimmung beginnt und es ein jeder nach seiner eigenen Façon versucht. Von Freiheit kann dabei natürlich keine Rede sein, denn es gibt ja die Mode, der alles unterliegt. Und so ist es nun ganz sicher ein Zeichen von Mode, dass die Jugend von heute so hartnäckig danach trachtet, sich im maximal möglichen Maße von Kleidung zu befreien und stets und überall nur im T-Shirt zu erscheinen.

Selbstverständlich ist dies eine Mode, für die ich keinerlei Verständnis aufbringe. Denn ich schätze die hiesige Vielfalt der Jahreszeiten; ich liebe neben dem Sommer auch den Frühling, am meisten den Herbst und sehr auch den Winter, also jene drei von vier Jahreszeiten, in denen meinem offensichtlich antiquierten Temperaturempfinden nach größtenteils kein T-Shirt-Wetter herrscht. Das schert den jungen Mensch und Revoluzzer wenig: Kaum weicht der Winter und der Frühling macht die Bäume wieder grün, entblättert sich die Jugend, entledigt sich der Jacke und ist die nächsten acht Monate mit oben nichts als einem T-Shirt auf der Straße zu sehen. Die Freiluft-Saison beginnt nach meiner Beobachtung ab ca. 13 Grad, und es ist inzwischen auch keine Seltenheit mehr, dass zum kurzen Shirt sofort auch kurze Hosen getragen werden. Ich sah dies erst letzte Woche mehrfach.

Im Winter ist es prinzipiell nicht anders. Man trägt zwar Jacke drüber, aber drunter immer T-Shirt. Neulich war ich – der Sport bringt die Generationen zusammen – auf einem 32. Geburtstag eingeladen. Draußen waren es minus fünf Grad, drinnen war ich trotzdem die einzige mit langen Armen. Es spricht zwar klar für die Leistungsfähigkeit der Heizungsanlagen in unseren Häusern, dass in geschlossenen Räumen niemand mehr Rollkragenpullover tragen muss, aber nicht nur aus ökologischen Gründen wäre es vielleicht bereichernd, die Raumtemperaturen ein wenig herunterzuregeln. Denn schließlich geht dieser transsaisonale T-Shirt-Trend nicht nur mit einer gewissen modischen Verarmung einher, sondern bedroht in letzter Konsequenz auch große Teile der einheimischen Bekleidungsindustrie.

Es reicht also nicht, sich einfach nur fremdzufrieren oder dem jungen Mensch angesichts von Shorts im März zuzurufen: „Was trägst du eigentlich im August?“ Um Abhilfe zu schaffen, Arbeitsplätze und schließlich auch den Generationenvertrag zu retten, wäre es viel wichtiger zu wissen, warum die jungen Leute so offensichtlich blind und unempfänglich sind für die Schönheit von Hemden, Strickpullovern, Übergangsjacken etc. Warum fühlen sie die Kälte nicht? Haben sie mehr Hitze als wir früher? Oder sind sie abgestumpfter?

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Arm oder Bein? Nur im T-Shirt kann man zeigen, was man hat.

Vielleicht liegt es, wie gesagt, einfach an der Mode. Denn zu der gehören ja auch all diese herrlichen Tätowierungen und Sachen, die weite Teile des Jahres ein Dasein in Dunkel und Unsichtbarkeit frönen müssten, trüge und behaupte man nicht ganzjährig Sommer. Nicht auszudenken, wenn all diese Kunstwerke, Statements und identitätsbildenden Maßnahmen nie jemand zu Gesicht bekäme! Nun, Körperkult verliert mit den Jahren deutlich an Relevanz und Faszination, wie überhaupt ja Verlust das vorherrschende Lebensgefühl im Alter ist. Nichts anderes empfinde ich allerdings auch, wenn mir die Jugend im promethischen Eifer mit Hilfe von T-Shirts, Heizpilzen und der Erderwärmung all die schönen Jahreszeiten wegglobalisiert. Vielleicht stemme ich mich deshalb so gegen die klimatische Nivellierung und Langweilisierung.

Daneben, und das muss man den jungen Leuten zugute halten, spricht freilich auch einiges dafür, dass es neben den interindividuellen tatsächlich auch einige intergenerationale Unterschiede in der klimatischen Kognition gibt. Ich denke da zum Beispiel an klimakterische Frauen, zu deren traumatischsten Erfahrungen es ja gehört, dass ihr Temperaturempfinden plötzlich nicht mehr mit dem ihrer Umwelt übereinstimmt. Mir fallen aber auch meine über achtzigjährigen Eltern ein, die ich in ihrer Vier-Zimmer-Sauna meinerseits nur noch im T-Shirt besuche, während sie über ihrem dicken Pullover noch eine Strickjacke tragen. Dies weitergedacht geht der Mensch vermutlich keineswegs auch wieder völlig nackt aus dieser Welt.

Aus all dem lässt sich aber noch eine weit wichtigere Erkenntnis ableiten: nämlich dass hinsichtlich jenes populistischen Kniffs, im Wetterbericht neben dem absoluten Wert auch die gefühlte Temperatur zu nennen, dringend Handlungsbedarf besteht. Hier ist eindeutig weitere Differenzierung angezeigt: „Bonn, Regen, 13 ˚C, gefühlte Temperatur 20-Jährige: 25 ˚C, 50-jährige Frauen: 32 ˚C, 50-jährige Männer: 12 ˚C, 80-Jährige: minus 1 ˚C.“

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Sundays against Elektroschrott

Ich wohne am Rhein, und wenn hier ein langer, heißer Sommer das Flussbett austrocknet, dann kommen auf dem schlickigen, steinigen Grund plötzlich die seltsamsten Dinge zum Vorschein: Neben Weltkriegsbomben werden auch viele Fahrräder und manchmal sogar ganze Autos zutage gefördert. Wird man an einem lauen Abend bei einem Spaziergang am Ufer mal wieder eines aus dem Wasser ragenden Lenkers oder eines ganzen Fahrradgerippes ansichtig, fragt man sich natürlich unwillkürlich, wie es wohl dahin gekommen ist, von wem es einst in den Fluten versenkt wurde und warum dies geschah.

Wenn klandestine Müllentsorgung die Ursache war, dann steht zu befürchten, dass in den langen, heißen, dürren Sommern der Zukunft ein anderes illegal stillgelegtes Fahrzeug die hiesige, ohnehin schon viel befahrene Wasserstraße dominieren wird: der E-Roller. Wie eine Pest ist er in diesem Sommer über unsere Stadt gekommen und verbreitet sich hier nun schneller als die schlimmste, ekelerregendste Krankheit. Überall im Stadtgebiet sieht man grün-weiße Roller herumstehen, die darauf warten, Hipster mit Bart und Hütchen vom Motel One zum Starbucks zu befördern, und zwar so, dass die faulen Brüder nicht ins Schwitzen geraten. Denn Letzteres ist ja – jenseits der Profitgier der Hersteller und Anbieter – der einzige halbwegs einleuchtende Grund, aus dem der elektrobetriebene Untersatz ohne Überbau erfunden worden sein könnte.

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Tretroller, Fahrrad, Auto: Evolutionsgeschichtlich befindet sich der Roller auf der niedrigsten Stufe menschlicher Mobilität. (Im Hintergrund: ein Kran!)

Ein weiterer Vorteil, den das rollende Brettchen gegenüber dem (in dieser Stadt ebenfalls prominent vertretenen) Leihfahrrad besäße, ist jedenfalls nach den Prinzipien der Vernunft nicht zu erkennen. In Medien jedweder Coleur und Orientierung liest man entsprechend, dass es mit dem angekündigten umwelt- und verkehrspolitischen Segen der E-Scooter nicht allzu weit her ist. Ja, die tolle Neuheit für den Straßenverkehr ist so rasant schnell nach ihrem Eintreffen in der Realität schon derart schlimm in Verruf geraten, dass man sich fragen muss, ob sich hier im Vorfeld überhaupt irgendwer irgendwelche Gedanken gemacht hat.

Dass der zu weiten Teilen aus Plastik bestehende Roller mit dem umweltschädlichen Akku ausgerechnet vor allem dem Fahrrad – ob geliehen oder in eigenem Besitz befindlich – Konkurrenz macht, scheint mir dabei eine der größeren Ironien zu sein. Dass der Tretroller-Trend vor allem ganz neuen und ganz und gar überflüssigen Spaßverkehr auslöst, statt uns vor den CO2-Emissionen der – mir bis dato völlig unbekannten und somit auch völlig unverdächtig erscheinenden – „letzten Meile“ zu bewahren, eine weitere. Denn es sind ja überwiegend nicht Maurer auf dem Weg zur Baustelle, Angestellte auf dem Weg zu einem weiteren langweiligen Tag im Büro oder Manager auf dem Weg vom Bahnhof zum Geschäftstermin in einer fremden Stadt, die man mit wackeligen Beinen auf den dusseligen  Dingern balancieren sieht, sondern vor allem junge Leute in Freizeitbekleidung. Das wundert allerdings nicht, denn eine Tauglichkeit für den Arbeits- oder Reiseweg ist beim Bauprinzip Roller ja per se nur eingeschränkt gegeben: Eine Taschenmitnahme jedenfalls ist (jenseits von Rucksäcken) ausgeschlossen bzw. lebensgefährlich. (Aber auch Fahrten ohne Koffer erhöhen nur unnnötig das allgemeine Unfallrisiko.)

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Die einzige Variante, in der das Gefährt sympathisch ist.

Was  allerdings enorm wundert, ist, dass zumindest eine Person das motorisierte Kinderspielzeug für eine umwelt- und verkehrspolitische Wunderwaffe gehalten haben muss. Ich meine, ich weiß nicht, wer die Einführung des neuen Fahrzeugtyps federführend verantwortet hat, aber ich finde, man muss nicht allzu clever sein, um die Defizite zu erkennen. Deshalb und weil es von den ersten Meldungen hinsichtlich der generellen Existenz von „Elektrorollern“ in diesem Frühjahr bis zu deren tatsächlichen Auftauchen im Juni so (untypisch deutsch) schnell ging, kommt es mir vor, als habe man der Gesellschaft diese umweltpolitischen Tret-Minen klammheimlich untergeschoben, ohne vorher zu fragen oder gar diskutieren zu wollen, ob sie sie auch haben will – und verkraften kann.

Denn von dem Schlimmsten haben wir bisher ja noch gar nicht gesprochen, und das ist die geradezu obszön kurze Lebensdauer der Miet-Mobile. Denn die Rent-Roller halten – man kann es kaum glauben – nur rund drei Monate! Ganze 90 Tage, dann verwandeln sich die überwiegend in China produzierten Scooter in Elektroschrott! Wir müssen wieder einmal rechnen: In meiner Stadt sind die ersten Anbieter im Juni mit rund 250 Geräten gestartet. Damit sind inzwischen auch schon die ersten 250 E-Leichen produziert, Ende des Jahres erhöhen wir dann auf 500 kaputte Teile. Aber das Soll-Ziel ist damit noch längst nicht erreicht: Die Roller-Abdeckung im Stadtgebiet soll laut Lokalzeitung irgendwann im „oberen dreistelligen Bereich“ liegen. Wenn das klappt, produzieren wir allein in dieser Stadt bald 3000 und mehr defekte Roller im Jahr!

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Das Beste ist auf dem Bild wieder einmal nicht zu sehen: Diese Exemplare stehen vor einem Altenheim.

Ich bin alt. Ich bringe meine kaputten Schuhe manchmal zu einem echten Schuster, der noch älter ist als ich. Er ist ähnlich alt wie meine Mutter, die in kargen Kriegs- und Nachkriegszeiten groß geworden ist und heute geradezu zum Vorbild taugt in Sachen Nachhaltigkeit. Aus alten Frotteebademänteln näht sie Handtücher, andere ausrangierte Kleidungsstücke werden zunächst bei der Arbeit im Selbstversorgergarten getragen, bevor sie dann ihr langes Leben als Putzlappen aushauchen. (In diesem Sommer habe ich bei einem Besuch zu Hause mein Auto tatsächlich mit einem meiner Lieblings-T-Shirts aus den 90ern gewaschen.) Vom Speiseeisbehälter bis zur Senfglas hebt meine Mutter alles auf, was man noch einmal sinnvoll verwenden kann, und in ihrem Haushalt gibt es ein paar tadellos funktionierende Elektrogeräte, die noch aus den Fünfzigerjahren stammen.

Das muss man wissen, um die Verstörung zu verstehen, die auch ich empfinde, wenn ich solche Sachen wie die von den E-Rollern lese. Denn zwar habe auch ich mich in den letzten Jahrzehnten widerwillig an die immer kürzer werdenden Lebenszyklen von Elektrogeräten gewöhnt, und in diesem Zuge auch irgendwann begriffen, dass Reparieren nichts mehr ist, was irgendjemand außer mir und zwei drei weiteren Ewiggestrigen noch für erstrebenswert hält. Aber drei Monate? Das ist pervers.

Nichtsdestotrotz scheint alles, was noch zwei gesunde junge Füße hat, derzeit unbedingt auf dem neuen Spielgerät stehen und durch die Stadt rollern zu wollen, während in dieser Alterskohorte gleichzeitig gerade so massiv für das Klima demonstriert wird. Angesichts dieses Paradoxons bin ich als böse alte Frau natürlich stark versucht, mit einem anklagenden Finger auf die jungen Leute zu zeigen und hypokritisches Verhalten zu konstatieren. Dass ich trotzdem Nachsicht und Verständnis walten lasse, liegt daran, dass ich große Sympathie für die streikenden Schüler hege und große Hoffnungen in die Bewegung setze (auch wenn ich manchmal glaube, dass das ganze FFF-Ding ganz unabhängig vom Thema auch einfach nur dem Bedürfnis der Jugend nach Rebellion entgegenkommt). Sicher werden sie auch in Bezug auf den fahrbaren Elektromüll bald zur Vernunft kommen. Falls nicht: Kann die kleine schwedische Heilsbringerin hier bitte bald mal ein klares Statement abgeben? Sonst wird man mich in meiner Verzweiflung wohl bald selbst des Nachts auf der Brücke stehen und die vermaledeiten Vehikel übers Geländer wuppen sehen.

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Wider die Fremdheitsgefühle im europäischen Haus!

Ich habe noch nie zu jemandem darüber gesprochen, aber nun muss es doch einmal offenbar werden: In meiner Kindheit war ich ein großer Abba-Fan. Dass ich aber am Samstag, 6. April 1974 frisch gebadet und Erdnüsschen naschend vor dem Fernseher saß, als die vier Schweden in Brighton den „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ gewannen, ist eine Erinnerung, auf deren Wahrheitsgehalt ich nicht unbedingt mein ganzes Erspartes verwetten würde. Nichtsdestotrotz gehöre ich ungefähr seit dieser Zeit zum treuen Publikum dieser Veranstaltung, die lange Jahre als Inbegriff des Spießerfernsehens galt, bevor sie schließlich irgendwann mit dem fragwürdigen Label „Kult“ versehen wurde.

Ich weiß auch nicht, warum ich dem Sängerwettstreit jedes Jahr auf Neue beiwohne (nur in den Neunzigern habe ich ab und zu geschwänzt). Denn es gibt ja eine lange Liste an Dingen, die dagegen sprechen, nicht zuletzt die musikalische Qualität. Vielleicht hat es mit Kontinuität und lieben Gewohnheiten zu tun, die man mit fortschreitendem Alter doch immer mehr schätzt. In jedem Fall ist es nicht Festhalten an Altem und Überkommenem. Denn gerade in diesem Jahr scheint mir der ESC ein Ereignis, das an Aktualität und Wichtigkeit kaum zu übertreffen ist und das deshalb auch und gerade allen jungen Weltbürgern unbedingt als Pflichttermin ans Herz zu legen wäre.

Denn, ihr lieben Freunde, es geht hier ja – wie kaum noch irgendwo sonst – um den europäischen Gedanken, den man nicht ohne Not allein den Homosexuellen überlassen sollte. Die Gründe dafür liegen klar auf der Hand: Wo sonst vieles schon verloren scheint, gibt es beim ESC noch gute Nachrichten. Hier ist England noch dabei. Russland und die Ukraine singen zumindest in diesem Jahr noch auf derselben Bühne. Und obwohl die Türkei schon seit 2013 den europäischen Chorgesang boykottiert und ganz sicher niemand die alljährlichen null Punkte vom Bosporus vermisst, denkt man in diesem Jahr vielleicht zum ersten Mal, wie schade das Fehlen dieser Stimme eigentlich ist.

Angesichts dieser und mancher weiterer schwelender Konflikte, problematischer Befindlichkeiten und grassierender Fremdheitsgefühle im europäischen Haus scheint daher erstaunlicherweise auch im Jahr 2018 kaum etwas überholt von dem Gedanken der Völkerverständigung, dem einst bereits die erste Veranstaltung im Jahr 1956 entsprang. Sieben Länder nur waren es, die damals, gut zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, im neutralen schweizerischen Locarno antraten, um diesmal nur gegeneinander zu singen (und in Zukunft vielleicht sogar miteinander!). Das war – schon Jahre vor Helmut Kohl (und noch ganz ohne Geld) – die schöne Euro-Vision.

Es ist in diesen globalisierten Welt und Zeit kaum mehr vorstellbar, wie wechselseitig fremd und unbekannt man sich 1956 im alten Europa noch war. Aber wenn man einmal Schlager wie „Zwei kleine Italiener“ (1962), Zigeunerjunge (1967) oder „Griechischer Wein“ (1974) hört, gewinnt man einen Eindruck davon, was vielleicht erst alles weg- oder hinzusingen war, bevor dies (West-)Europa so werden konnte, wie wir es heute kennen. Heute haben alle in Italien, Frankreich und Spanien studiert, manche haben dort sogar Freunde und Häuser, und nicht nur Gyros, Pizza und Pommes frites kochen wir hier schon lange selbst.

Aber jetzt kommen wir mal zu Aserbaidschan.

Die Tatsache, dass Leute wie ich im Fall der durch die Osterweiterung neu hinzugekommenen Länder bei der Hauptstadtfrage häufig eher durch passive Kennnisse glänzen, bevor sie bei der Frage: „Kennst du eine zweite Stadt in diesem Land?“, dann schließlich gänzlich passen müssen, wirft ein kleines Schlaglicht auf das ganze Ausmaß des weiterhin bestehenden Handlungs- und Annäherungsbedarfs. Wenn ein Urlaub am Kaukasus eines Tages von der Ausnahme zur Regel werden soll, müsste man eigentlich tagtäglich miteinander singen und musizieren. Allerdings könnte es nicht schaden, die Form, in der dies geschieht, mal wieder ein bisschen zu renovieren. Denn früher war – es hilft einfach nicht – auch beim großen europäischen Gesangspreis manches schon ein bisschen besser respektive im Sinne der Völkerverständigung hilfreicher arrangiert.

Das bessere Früher beginnt bereits beim Titel: Vom „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ zum „Eurovision Song Contest“, von der Mondänität des Chansons zur schlichten Einfachheit des Songs, vom „Großen Preis“ zum beliebigen Contest. Da ist mit den Jahren auch viel Anspruch aufgegeben worden. Dies gilt auch in Bezug auf die einstmals schöne Sitte und Bedingung, dass die Völker ihre Lieder in der jeweiligen Landessprache zu singen haben. Sicher, da waren manche von vornherein benachteiligt, aber wenigstens gab es zwischendurch mal was anderes zu hören als internationales Klippschulenglisch mit schlimmem gesamteuropäischem Akzent. Aber damals wollte man sich ja einander auch noch vorstellen und sich nicht gegenseitig von der Bühne fegen oder sich zumindest für Ereignisse in der Realpolitik mal ordentlich abstrafen.

Kurz, das Bedauernswerteste überhaupt ist, dass die Veränderungen am geltenden Regelwerk den Grand-Prix im Laufe der Zeit vom eleganten diplomatischen Parkett immer mehr zur bluttriefenden Arena des Volkszorns befördert haben. Dass man 1997 die Experten-Jury aufgegeben und dafür Volkes Stimme gegen Geld das Votum überlassen hat, mag das Facebook-System des gehobenen oder gesenkten Daumens schon vorweggenommen haben. Das gesamteuropäische Miteinander und gegenseitige Verständnis hat diese Maßnahme, die Qualität von Musik – und Menschen und Ländern – auf die simple Formel von telefonischen „Likes“ und „Dislikes“ zu bringen, sicher nicht befördert.

„Here are the results of the Turkish shitstorm.“ Was sollen wir denn auf dieser Basis anderes miteinander bauen als Giftgasraketen? Ach, vielleicht bräuchte man in diesen dräuenden Vorkriegszeiten manchmal wieder ein bisschen freundlichen, altmodischen Nachkriegsgeist? Versöhnlichkeit und nicht Profitstreben jedenfalls dürfte vorrangig gewaltet haben, als man 1950 eine europäische Rundfunkunion gründete, die unter anderem dem gegenseitigen Austausch von Fernsehprogrammen dienen sollte. Ein gemeinsames Programm für sieben Nationen: Man kann sich das in Zeiten, in denen internationale Streaming-Dienste den alten, öffentlich-rechtlich bestückten Fernseher zum piefigen Guckkasten verkommen lassen, kaum mehr vorstellen. Andererseits kann ich mir auch kaum vorstellen, dass „Netflix“ bereit wäre, sein Angebot mit „Amazon Prime“ zu teilen und zu tauschen. Das Maß, in dem einem dieser Gedanke heute völlig absurd erscheint, zeigt, wie viel wir von dem Guten schon verloren haben bzw. wie relativ Modernität ist.

Doch es hat keinen Zweck sich in nirgendwo hinführenden Gedanken an ein ideales Gestern zu verlieren. Das Einzige, was hilft, ist Einschalten und damit auch am 12. Mai 2018 gegen jeden Trend wieder dazu beizutragen, dass die inzwischen einzig verbliebene Eurovisions-Sendung im TV weiter bestehen bleibt – und eines Tages vielleicht auch wieder zu einer Bühne wird, auf der auf musikalischem Weg Konflikte beigelegt und nicht ausgetragen werden. Im Sinne einer solch versöhnlichen Botschaft erscheint es mir im Übrigen völlig legitim, gänzlich zu vergessen, zu verdrängen und zu verschweigen, dass beim ESC ansonsten das Meiste noch genauso schlecht und schlimm ist, wie es beim Grand Prix früher schon immer war.

PS: Schauen Sie sich bitte auf YouTube einmal die Gruppe „Teach-in“ und ihren Siegersong von 1975 „Ding-A-Dong“ an. Anschließend werden Sie jederzeit, ohne zu zögern, nicht nur Ihr eigenes Erspartes, sondern auch das von Vater und Mutter verwetten, dass Benny und Björn ein Jahr später schon wieder auf der Bühne gestanden und gewonnen haben.

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Handbremsenfahrt auf dem falschen Dampfer

Krankenschwester, Astronautin, Lokführerin – das alles waren keine Träume, Pläne und Wünsche, die ich als Kind hegte. Eigentlich kann ich mich an keinerlei Berufswunsch erinnern. Was ich aber noch sehr gut weiß, ist, dass ich als Kind eines ganz klar vorhatte: Ich wollte rauchen, wenn ich groß bin. Und ich erinnere mich an eine mit diesem Herzenswunsch korrespondierende ernste Sorge: Ich hatte große Angst, dass es keine Zigaretten mehr geben würde, wenn ich endlich alt genug dazu wäre. Deshalb habe ich dann nicht so lange gewartet.

An meine erste Zigarette kann ich mich ebenfalls noch sehr gut erinnern. Es war ein in der ganzen Verwandtschaft wegen seiner Trunk- und Protzsucht verrufener Onkel, der beim sonntäglichen Besuchskaffee mit großen Reden, aber in reiner, lauterer Absicht eine prophylaktische Maßnahme in Angriff nahm: Das Kind sollte durch eine verfrühte Nikotingabe vor einem späteren Konsum bewahrt werden. Ich war damals neun Jahre alt. Und nachdem ich die erste Lord Extra unter den Augen meiner eigenen Mutter und einiger Tanten genüsslich verpafft und im Aschenbecher ausgedrückt hatte und mich alle erwartungsvoll anschauten, trat ich den Beweis an, dass es mir mit meinen Wünschen und Träumen ernst war: Ich erklärte, noch eine rauchen zu wollen.

Viele Dinge, die in meiner Kindheit gang und gäbe waren, kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Wenn man Ähnliches mit heutigen Eltern und Kindern nachspielen wollte, würde man vermutlich allein auf den reinen Vorschlag hin für immer aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen (außer vielleicht in Kolumbien). Dabei könnte ich inzwischen gut für den Onkel durchgehen, und es gibt auch einen mit ähnlicher Freude an verbotenem Tun ausgestatteten kleinen Neffen. Doch ich würde dem Knaben diese Lehre allein deshalb schon nicht erteilen wollen, weil ich es an der Kaffeetafel, also in geschlossenen Räumen, heutzutage mit einer E-Zigarette tun müsste. Und das würde überhaupt keinen Spaß machen!

Denn die Elektrozigarette hat dem Rauchen ja alle Eleganz, Schönheit und Würde genommen und das, was einst Glamour und große, weite Welt bedeutete, auf die schiere, traurige Sucht reduziert. Das Nikotin wird dem Abhängigen nun in liquider Reinform verabreicht, und auch konsumiert wird mit ganz anderer Haltung. In einer Kneipe, in der ich in jüngeren Jahren so manche Schachtel leer geraucht habe, hatte die Wirtin zahlreichen berühmten Old-School-Rauchern ein Denkmal gesetzt: Die Zigarette zwischen zwei nonchalant abgespreizten Fingern oder cool im Mundwinkel, von Rauchschwaden mystisch umhüllt, sah man dort auf Postern an den Wänden unter anderem Legenden wie Humphrey Bogart, Marlene Dietrich, Romy Schneider und Curt Cobain. Dass sie alle, statt lässig an einer Chesterfield, Philipp Morris oder Attika zu ziehen, an einem unförmigen Elektrogerät gelutscht hätten, ist eine Vorstellung, die mit dem Hirn eines geistig völlig gesunden Menschen nicht zu erzeugen ist.

Nichtsdestotrotz tut heute eine ganze Menge Zeitgenossen nichts anderes und führt regelmäßig E-Zigaretten zum Munde, obwohl die meisten nicht einmal wissen, wie man dieses Utensil mit der Optik eines Autoersatzteils (Einspritzpumpe? Vergaser?) so halten könnte, dass es gut aussieht. Wie arme, verdruckste Süchtige stehen sie im Herbstregen an der Bushaltestelle und saugen mit gesenktem Kopf ungeschickt und nicht selten hinter der Hand verborgen an ihrem Gerät. Dabei blicken sie sich immer wieder verstohlen und unsicher um, ob sie in ihrem ästhetischen Elend auch niemand sähe und beobachte. Ganz ehrlich, mir ist noch niemand begegnet, der im Elektro-Smoking halbwegs selbstbewusst, attraktiv oder gar geheimnisvoll ausgesehen hätte. Oder andersherum: Maximal Opa mit Pfeife ist der Eindruck, den man mit E-Zigaretten erzeugen kann. Vielleicht ist also die E-Zigarette auch nur eine subversive Maßnahme, mit der man in diesen geradezu hysterisch gesundheitsorientierten Zeiten, das Rauchen weiter unattraktiv machen möchte.

Doch es ist nicht allein die Ästhetik, die mich das elektrische Rauchen so verdammen lässt. Es gibt auch ganz handfeste, rationale Gründe. Denn auch die Funktionalität der E-Zigarette ist der ihres Tabak-in-Papier-Vorläufers ja vollumfänglich unterlegen. Jenseits der bis zu den alten Indianern zurückreichenden rituellen Funktion des Tabakrauchens hatte die Zigarette im gesellschaftlichen Miteinander ja noch zahlreiche andere Aufgaben: Mit und ohne Filter ließ sich unter anderem die Zeit messen (und überbrücken), Kontakt aufnehmen und sogar Gutes tun.

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Ich könnte jederzeit wieder anfangen, ich habe alles Nötige noch im Haus.

„Hast du mal ´ne Zigarette?“ Als E-Raucher hat man praktische keine Möglichkeit mehr, in Situationen großer Not und Armut großherzig und bereitwillig den Geboten der christlichen Caritas Folge zu leisten (zumindest keine hygienische). Und auch die ernst gemeinte oder vorgeschobene Bitte um Feuer, die in den alten mechanischen Zeiten nicht nur viele schöne Stunden, sondern auch manche langjährige Ehe begründet hat, ist keine Option, die einem die postmoderne Form des Rauchens noch eröffnen würde. Denn die neuzeitliche Dampfmaschine entzündet sich ja ganz von selbst. Da sie sich noch dazu beliebig ein- und ausschalten lässt, ist mit ihr leider auch die in keinem Kalendersystem verzeichnete, aber dennoch jedermann geläufige und als Intervall auch einzigartige Maßeinheit der Zigarettenlänge hinfällig geworden.

Nein, das elektronische Rauchen ist ein herzloses, unerfreuliches, selbstbezogenes Business. Es ist noch dazu eines, dass dem allseits grassierenden Schaumschläger- und Windbeuteltum weiter Vorschub leistet. Denn während sich der ehrliche Kettenraucher von gestern noch fragt, ob man ohne Tabak (und bisweilen ja sogar ganz ohne Nikotin und mit Erdbeergeschmack) überhaupt noch von Rauchen sprechen kann, dreht der Highend-Schmöker und -Blender von heute schnell den Verdampfer auf Stufe 10 und vernebelt mit seinem Elektro-Smog einfach, dass bei ihm nichts als heiße Luft am Start ist, nur eine Handbremsenfahrt nach dem Motto: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass!“

Während diese schlimme Form des Aufschneidertums allseits gerne gesehen ist und staatlich auch in keinster Form reglementiert wird, werden alle aufrichtigen, geradlinigen, mutigen Tabakraucher weiter diskriminiert und gedemütigt. Für sie gilt an den meisten Orten dasselbe wie früher für Hunde: „Wir müssen leider draußen bleiben.“ Und wenn sich Humphrey Bogart oder Romy Schneider heute irgendwo mit einer Kippe ablichten lassen würden, würden sie nicht nur nie wieder eine Filmrolle bekommen, sondern nachträglich auch allen ihren bereits gedrehten Filmen herausretuschiert.

So bleibt uns echten Rauchern und Ex-Rauchern nur mehr das Traumland der Erinnerungen an vergangene nikotingoldene Zeiten, als nicht nur Helmut Schmidt, sondern jeder einfache Bürger rauchen durfte, wo er ging und stand: im Büro, im heimischen Wohnzimmer, in der Anwesenheit von Kindern, im Flugzeug, im Hörsaal, auf dem Schulhof, im Restaurant, in der Fernsehshow, ja sogar im Krankenhaus. Ich hatte (noch in diesem Jahrtausend) eine Hausärztin, die in einer schönen alten Villa wohnte und ordinierte und stets zu rauchen pflegte, während sie ihre Patienten empfing. Wo immer wir alten Menschen uns treffen, erzählen wir uns heute gerne solche Geschichten, und erst neulich berichtete mir eine Bekannte mit wehmütigem Blick von den Veränderungen in ihrem Berufsalltag: „Wo es heute beim Meeting zwischendurch fünf Minuten Raucherpause gibt, haben wir früher für die Nichtraucher zwischendurch mal fünf Minuten gelüftet.“ Wie gesagt, man kann es sich kaum mehr vorstellen.

Und natürlich kann man die Uhr auch nicht zurückdrehen. Aber jetzt, wo die besten Zeiten ganz offensichtlich vorbei sind, sollte man das Rauchen vielleicht auch einfach komplett sein und aussterben lassen, statt den schönen blauen Dunst einfach durch den langweiligen weißen Dampf zu ersetzen. Denn das ist ja auch ein bisschen so, wie einer Witwe einen Hund zu schenken. Ich selbst habe jedenfalls schon vor ein paar Jahren meine letzte Zigarette geraucht. Ein alter Kindheitstraum war bis dahin in jedem Fall hinreichend erfüllt.

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Coffee no go

Sich auf dem Sofa liegend ziellos durch die Kanäle zu zappen, ist an einem verregneten Sonntagnachmittag nicht der schlechteste Zeitvertreib – und unabhängig von der Wetterlage häufig ja auch sehr bereichernd. (Immer nur das zu sehen, was man sehen will, bringt ja niemanden weiter.) Auf einer solchen Expedition durch die Fernsehwelten kam ich neulich an einem Spielfilm vorbei, den ich als Kind schon einmal gesehen habe, zu dem ich aber eigentlich nichts Auffälliges erinnere: „Das indische Grabmal“. Dabei ist es unglaublich, was man zu sehen bekommt: Die Schauspieler, die in diesem deutschen Spielfilm von 1959 die Inder spielten, sind allesamt mit brauner Schuhwichse angemalt wie weiland beim Sternsingen den Melchior, und auch sonst wirken die Kulissen ähnlich echt wie bei „Bonanza“ oder „Raumschiff Enterprise“. Dabei handelt es sich beim „Indischen Grabmal“ keineswegs um irgendein billig produziertes B-Movie, sondern immerhin um einen Film von Fritz Lang, der in seiner Zeit durchaus ein Kassenschlager war.

Gott sei Dank ist die Simulation von Realität in Kino und Fernsehen im Laufe der Jahre immer besser geworden (was sich paradoxerweise am besten im Science-Fiction- und Fantasy-Genre zeigt). Umso unbegreiflicher erscheint es da, dass man auf Leinwand und Bildschirm bis heute nicht in der Lage ist, eine der banalsten Alltagshandlungen überzeugend darzustellen: das Kaffeetrinken. Warum das so ist, ist mir ein Rätsel, aber wo man hinschaut, wird mit dem Becher in der Hand gestikuliert und herumgefuchtelt, dass es die wahre Pracht ist, im echten Leben aber jeder in einem Radius von fünf Metern über und über mit brauner Brühe beschüttet wäre.

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Der Versuch einer bildlichen Illustration des Problems.

Selbst die reine Fortbewegung mit Kaffeetasse (ein klassischer Topos im Fernsehkrimi) gerät senderübergreifend in den seltensten Fällen glaubhaft. Denn wo vorsichtiges Balancieren angebracht wäre, wird forsch weitausgeschritten, als drohe nirgends das Risiko des Verschüttens oder einer verbrannten Hand. Eine gewisse Steigerung erfährt dieses eklatante Versagen der Schauspielkunst dort, wo statt der klassischen Henkeltasse das zeitgenössisch vorherrschende Kaffeebehältnis ins Spiel kommt: der Pappbecher. Was man da sieht, ist selbst für den Wohlmeinendsten kaum mehr zu ertragen. Denn egal, wie fragil, gut gefüllt und temperatursensibel so ein dünnhäutiges Coffee-to-go-Becherchen auch sein möchte, es wird von energischen Kommissaren bei Beratung oder Arbeit mit festem Griff gepackt und in den absurdesten Winkeln und Geschwindigkeiten herumgeschwenkt und zum Mund geführt, bevor dann so schnell und kurz und daran genippt wird, dass es in echt nicht zur Aufnahme eines halben Grammes Wasser reichte. Das Problem dabei ist eigentlich immer dasselbe: Obwohl es doch eigentlich nicht so schwer sein kann, wird nie mitgespielt, dass in Tasse oder Becher etwas drin ist und dass das eventuell auch noch heiß ist.

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Aus dieser Perspektive werden Kaffeetassen im TV aus gutem Grund selten gezeigt.

Ähnlich dilettiert wird meist auch da, wo verreist wird und Gepäckstücke dies illustrieren sollen. Hier werden dann regelmäßig einbauküchengroße Koffer mühelos angehoben und ohne jedwede weitere sichtbare Anstrengung einhändig zum Auto und in den Kofferraum geschlenkert, als handele es sich um ein Päckchen Watte. Vielleicht würde es schon helfen, mal ein paar Wackersteine hineinzutun. Vielleicht ist es aber auch höchste Zeit, bei Folkwangs und Ernst Buschs endlich mal einen verpflichtenden Method-Acting-Workshop zum Thema einzuführen: „Da schmeckt man das ganze Aroma – Kaffeetrinken für Anfänger“ (Leitung: Frau Sommer). Sollte das allein nicht semesterfüllend sein, könnte man den Kurs ggf. noch um eine Lektion in Sachen Telekommunikation erweitern. Denn auch beim realitätskonformen filmischen Telefonieren liegt international ja einiges im Argen (nicht nur weil dauernd ohne Tschüss und Abschiedsformel aufgelegt wird).

Wenn man die Fiktion also erfolgreich aufrechterhalten und nicht erfolgreich sichtbar machen möchte, gibt es auch heute noch einiges zu tun. Denn man will ja nicht dauernd so brutal aus der Handlung und Simulation von echter Unterhaltung herausgerissen werden, wie neulich bei diesem ZDF-Krimi: Beim Abtransport einer Leiche auf unwegsamen Gelände gerieten die Sargträger plötzlich ins Stolpern, und so schnell und leicht, wie dabei auch der Sarg in ihren Händen hüpfte, war dem kaffeebechergeübten Auge sofort klar: Da ist nix drin.

PS: Ist eigentlich schon mal jemand aufgefallen, dass man im HD-Fernsehen immer ganz schlimm deutlich sieht, wie stark die Schauspieler geschminkt sind? Das ist eigentlich wie beim „Indischen Grabmal“.

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Festnetztelefon: Ein Schwanengesang

Im Unterschied zu mir ist meine Freundin Tanja eine echte Trendsetterin, die Neues mit Freude und Neugier begrüßt und in puncto Elektrogeräte in der Regel immer ein bis zwei Technologien weiter ist als ich, die ich immer so starrköpfig und wider jede Vernunft am Alten hänge und festhalte und mich von lieb gewonnenen Dingen einfach nicht trennen will. Tanja streamt zum Beispiel schon seit Jahren, was das Zeug hält, wo ich neben einem CD- und DVD-Player auch immer noch einen Videorekorder und einen Plattenspieler mein eigen nenne und selbst die beiden Letzteren ab und zu noch im Gebrauch habe. Als meine Freundin Tanja nach ihrem letzten Umzug plötzlich keine Festnetznummer mehr hatte, wusste ich sofort: Das Schicksal des Telefons ist besiegelt ist, die ganze Festnetzsache ist auf dem Weg in den Orkus.

Inzwischen gibt es auch in meiner Alterskohorte schon eine ganze Menge Leute, die keine feste Nummer, kein festes Netz mehr haben, sondern nur noch ein Handy. Ohne Vorwahl, die noch ihren Wohnort verriete (quasi der Ortungsdienst der Vor-GPS-Zeit), ohne Kabel und Leitung, die im Sinne einer körperlich greifbaren Verbindung vom Hörer am Ohr des anderen in den fest installierten Apparat und von dort durch die Wand in die Erde und zu mir führt, schweben sie nunmehr gänzlich ungebunden im unfassbaren Nichts des universellen Elektrosmogs.

Ade nun also, du liebes Festnetztelefon! Denn erdgebundene Verwurzelung und Verkabelung, die ein Zuhause und ein Zuhausesein voraussetzt, ist nicht nur aus technischen Gründen nicht mehr zeitgemäß. Leute, die so was noch haben und sind, sind alt oder vom Land oder beides oder sonst wie von gestern. Alle anderen sind busy und wichtig und dauernd unterwegs und mobil und brauchen und wollen Vernetzung, aber kein Festnetz mehr. Und so kann das Handy, dieser Serienmörder unter den Elektrogeräten, eine weitere Kerbe in seine Hülle schnitzen.

Das Festnetztelefon ist damit aber auch der erste große, zentrale Gegenstand, der gerade aus dem Inventar des Lebens, wie ich es kenne, verschwindet. Sicher werden ihm andere bald folgen (der Fernseher ist vermutlich auch schon auf Abschiedstournee), und die Frage ist, ob die Welt noch dieselbe sein wird ohne diese Monolithen der Moderne, von denen noch vor zehn Jahren kaum jemand geglaubt hätte, dass es ohne sie gehen könnte. Doch nun ist es so weit, und damit ist es Zeit für einen Abgesang auf ein Massenkommunikationsmittel, dessen Aufstieg und Untergang beinahe komplett in meine Lebenszeit fiel. Und ich registriere mit einiger Trauer und Wehmut, dass ich also nun auch schon alt genug bin, um so große Entwicklungsstränge miterlebt zu haben.

Im Rahmen eines nostalgischen Exkurses ist es nun natürlich zunächst meine Aufgabe als alte Frau, davon zu berichten, dass in meiner Kindheit noch längst nicht alle Leute ein Telefon hatten und es in dem kleinen Dorf, das der Schauplatz dieses Teils meiner Geschichte war, bis heute noch drei- und vierstellige Telefonnummern gibt. Ich muss von gelben Telefonhäuschen erzählen, in denen aus Gründen der Rücksicht auf den Mitmensch die Parole „Fasse dich kurz!“ allgemein akzeptiertes Programm war, und von der Endlosschleife der Zeitansage unter der Nummer 119, nach der man nicht nur die Uhr stellen konnte, sondern die man als Kind auch manchmal zum Spaß anrief, um die relativ monoton klingende Stimme eine gewissen Elvira Bader sagen zu hören: „Beim nächsten Ton ist es acht Uhr, neun Minuten und zehn Sekunden. Piep.“ (Wir hatten ja sonst nichts, noch nicht einmal eine Playsi.)

Ich fessele die Generation Flatrate und versetze sie in sprachloses Erstaunen, indem ich von der Einheit namens „Einheit“ berichte, in der sich früher, im Jahre Schnee, die Kostbarkeit eines direkten Gesprächs mit einem abwesenden Menschen bemaß, und dies in direkter, völlig logischer Relation zu der Entfernung, in der er sich befand. Es fallen gemütliche und heimelige Wörter vor wie Ortsgespräch, Sprechmuschel, Wählscheibe und Postmonopol, und in launigem Ton erzähle ich meinen ungeborenen Kindern und Enkelkindern von verschwundenen Dingen wie dem Telefonbuch, das so etwas wie ein Personenbestandsverzeichnis ganzer Landstriche war, im Vergleich zum Internet aber doch nur beschränkte Möglichkeiten der Information und somit auch des Stalkings bot.

Die imaginierten Nachkommen lachen angesichts der relativen Unschuld, in der wir weiland als Teenager manchmal erst via Telefonbuch die Nummer der Person von Interesse ermittelten, bevor wir diese dann mit klopfendem Herzen anwählten, nur um schließlich für die zwei Sekunden, die es dauert, einen herkömmlichen deutschen Nachnamen zu sagen, ihre Stimme zu hören. Überrascht erfahren sie, dass dieses mutige Werk der Minne nicht immer von Erfolg gekrönt war. Denn in der guten alten armen Zeit gab es ja – man kann sich das heute kaum mehr vorstellen – nur einen einzigen Apparat für alle dreizehn Familienmitglieder! Wenn also Mutter, Vater, Bruder oder Schwester dran waren, dann sagte man einfach: „Verwählt“, und legte schnell und folgenlos auf, denn in der guten alten analogen Zeit, konnte ja niemand sehen oder sonst wie nachvollziehen, wer angerufen hatte.

Doch diese hellen, glücklichen Tage der Langeweile und Ahnungslosigkeit sind lange vorbei, und wenn ich überlege, wann das letzte Mal jemand „verwählt“ zu mir gesagt hat, fällt mir noch etwas viel Erschreckenderes auf, nämlich dass mein Telefon generell heute kaum noch klingelt. Außer meinen Eltern, meiner Schwägerin und zwei alten Freundinnen ruft mich niemand mehr auf meiner Festnetznummer an. Alle anderen melden sich auf dem Handy – wenn die Kontaktaufnahme denn überhaupt noch fernmündlich erfolgt. Denn die gravierendste Veränderung ist ja nicht, dass das Handy bzw. Smartphone das Festnetztelefon abgelöst hat. Die gravierendste Veränderung ist, dass das Telefonieren als Kommunikationsform, ja Kulturtechnik überhaupt zu verschwinden scheint. Zum Zwecke des zwischenmenschlichen Austauschs aus der Distanz wird inzwischen ja vor allem gesimst, geappt, gesnapchattet und getextet.

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Große, gut erkennbare Tasten und ein belastbarer Hörer zum Unterklemmen: So telefoniert die traditionsbewusste böse alte Frau von heute, und ihre Botschaft lautet natürlich: „RUF MICH AN! JETZT!“

Vom Fernsprecher zum Fernschreiber, vom Dialog zum Monolog, vom Gespräch zur Ansage: Das egomane, einkanalige Senden verändert freilich auch den Ton und den Charakter des Miteinanders. Dass Legionen von Teenagern vom Ende ihrer ersten großen Liebe heute per SMS erfahren und sich noch nicht mal darüber wundern, deutet an, wo die Verluste liegen. (Vielleicht ist es aber auch nur konsequent, denn viele von ihnen hatten sich ja vorher auf irgendeiner Internetplattform auch schriftlich verliebt.) Mit diesen im Dauermodus des Indirekten entstehenden Defiziten wird im Wörterbuch der globalen Trends unter dem Begriff der „socially awkwardness“ kokettiert.

Diese soziale Ungeschicktheit ist jedoch kein Privileg der Jugend. Denn auch Vertreter meiner Generation, die es eigentlich noch besser können sollte, schreiben sich heute die Finger wund und zeigen mit all den vielen Buchstaben bisweilen doch nichts anderes, als dass sie auch sie bereits an „social analphabetism“ leiden. So hörte ich neulich von einer Bekannten, die einer anderen zum Tode des Vaters tatsächlich per SMS kondoliert hat.

Freilich, indem man nur mehr schreibt, erspart man sich auch alle negativen Gefühle und Reaktionen des anderen, und vor allem diese vielen fadenscheinigen Gründe für Absagen und andere Lügengeschichten jedweder Art lassen sich so viel besser an den Mann bringen. Man kann heute quasi wegen jedem Scheiß absagen und muss sich noch nicht mal die Enttäuschung des Gegenübers anhören. Mit der schwindenden Direktheit der Verbindung schwindet so auch die Verbindlichkeit. Und ist nicht auch das Wegdrücken am Handy ungleich rücksichtloser als die Gesprächsvermeidungstechnik des Festnetztelefons, die rein darin besteht, einfach nicht dranzugehen (und dem anderen nichts als die neutrale Botschaft zu senden: „Ich bin nicht zu Hause.“).

Vielleicht wird es mir aus all diesen Gründen fehlen, das Festnetztelefon. Doch bei all meiner Treue zum Analogen kann ich gegen sein fortschreitendes Verschwinden natürlich wenig tun. Der Trend zur Gegenstandslosigkeit wird weitergehen und weitere Opfer fordern: Schallplatten, CDs, Bücher, Fotos, Adress- und Notizbücher, Landkarten, Kaufhäuser, Taschenlampen, Uhren, Fotos, Geld – aus Dingen werden Daten, und das Smartphone übernimmt Funktion um Funktion. Und bald, das weiß ich von meiner Freundin Tanja, wird es auch keine Türklingeln mehr geben. Denn wann immer sie mich hier zu Hause abholt und unten vor der Tür steht, klingelt sie nicht, sondern schickt eine Nachricht per WhatsApp: „Bin da.“

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Pilots of the airways, here is my request!

Heute müssen wir mal von Liebe sprechen. Von echter, wahrer Liebe, die unaufgeregt ist, aber unverbrüchlich, die bislang alles überdauert und vieles verziehen hat, die nicht personengebunden ist (und manchmal eben doch) und deren Größe mir erst jetzt gerade, wo ich darüber schreibe und Gedanken dazu zusammentrage, in ihrem ganzen Ausmaß bewusst wird. In Zahlen, in die man die Liebe ja nicht fassen soll, ist es so: In meiner Wohnung gibt es insgesamt sechs Radios (Bad, Schlafzimmer, Küche, Arbeitszimmer, Wohnzimmer und ein kleines Casio-Gerät für die Reise), und eines davon ist in den 16 Wachstunden, die mein Tag umfasst, fast immer an. Ich habe schon dreimal in meinem Leben länger als ein Jahr irgendwo gearbeitet, wo ich es ohne ein Radio nicht eine einzige Woche ausgehalten hätte. (Eigentlich bin ich sicher, dass ich so ziemlich jede Arbeit machen könnte, wenn ich dabei Radio hören dürfte. Aber wo darf man das heute schon noch?)

In den mehr als 40 Jahren, die ich nun schon treu vor dem Transistor sitze, habe ich mich nur einmal von einem Sender scheiden lassen. Das war richtig so, und ich habe es nicht bereut, aber seither habe ich doch auch nie wieder geheiratet. Ich habe nun ständig wechselnde Partner bzw. lebe seit ein paar Jahren durchgehend polyamourös. Das heißt, ich höre immer noch (fast) den ganzen Tag Radio, ändere mit Raum und Zeit aber den Sender. Von „1 Live“ am Morgen im Bad bis „SWR1“ am Abend in der Küche reicht dabei das Spektrum, das aufgrund meines Wohnsitzes (und der eingesetzten Empfangstechnik) auf die Angebote von Südwestfunk und Westdeutschem Rundfunk begrenzt ist.

In der untergehenden Welt, in der ich lebe, spielt das Radio also immer noch eine große Rolle, aber so richtig glücklich bin ich schon lange nicht mehr mit ihm. Denn anders als früher gibt es heute keinen Sender mehr, bei dem ich rundum zu Hause wäre. Ob der Grund dafür bei mir oder in den Veränderungen in der Rundfunklandschaft zu finden ist, lässt sich nicht eindeutig sagen. Eine gewisse midlifecrisisinduzierte Mitschuld ist in jedem Fall nicht auszuschließen. Denn einerseits will ich nicht den ganzen Tag Oldies hören (WDR4 und SWR1) und mich in der Folge ebenso alt fühlen, gefangen in einer Zeitschleife, mit der Musik für immer im letzten Jahrhundert festgehalten. Andererseits hat es das Neue und Frische in der Musik (1 Live), das man sich wünscht, ja auch da besonders schwer, wo früher alles besser war. Dieser Widerspruch, der sich ab einem gewissen Alter unweigerlich einstellt, scheint mir unauflösbar. Für andere Sender (SWR3 und alle Privatradios) bin ich aber einfach nicht gut gelaunt genug.

Denn Verdruss und Verdrießlichkeit dringen ja mit dem Alter in immer neue Regionen vor, und das, womit viele Radiostationen heutzutage große Teile ihres Programms gestalten, ist für alte anspruchsvolle Menschen wie mich schlichtweg unerträglich. Dies beginnt bereits mit der Form, in der die Inhalte präsentiert werden. Eines der ersten Zeichen für die Krise, die sich zwischen mir und meiner ersten großen öffentlich-rechtlichen Dauerfunkverbindung anbahnte, war, dass man dort irgendwann in den 1990ern den dem schlechten Vorbild der neuen, privaten Konkurrenz folgte und ebenfalls damit anfing, die Wortbeiträge mit leise plätschernder Musik zu hinterlegen. Heute machen das fast alle, aber mich macht es immer noch kirre. Denn ähnlich wie das Rauschen bei unsauberem Empfang beeinträchtigt dieses Hintergrundgedudel und -geklimper meine Konzentration massiv. Und wenn man im Kampf gegen das schlimme, allgegenwärtige ADHS nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene als schützenswerte Individuen begreift, müsste es ein selbstverständliches Gebot kommunaler und bundespolitischer Gesundheitsvorsorge und Verantwortung sein, ein entsprechendes generelles Hintergrundmusikverbot im Rundfunkstaatsvertrag festzuschreiben.

Die Liste der Dinge, die meine Empfangsbereitschaft drastisch reduzieren, ist freilich noch länger. Viele davon lassen sich am Beispiel des hierzulande recht beliebten SWR3 gut erläutern. Denn wie kaum ein anderer von meinem Rundfunkbeitrag bezahlter Sender setzt dieser darauf, ausschließlich über sich selbst zu berichten. Zu diesem Zweck wird alle zwei Minuten eine Reise verlost, alle drei ein hauseigenes Comedy-Event im Sendegebiet angepriesen, alle vier Minuten geben die hauseigenen Comedians, die nebenberuflich das Programm moderieren, eine Kostprobe ihres großen oder kleineren Könnens, und alle fünf Minuten rufen Hörer an, die in schwäbischer oder pfälzischer Mundart von der Schönheit der gewonnenen Reise schwärmen oder das gestrige aushäusige Comedy-Event des Senders loben. Dazwischen bimmelt und jingelt es auch viel, laut und bunt.

All diese Dinge lassen prinzipiell auch auf anderen Stationen das Leben vor dem Lausprecher immer mehr zur Pein werden und verunmöglichen natürlich auch eine dauerhafte, monogame Bindung. Denn was sollen die ganzen dusseligen Verlosungen und Gewinnspiele, wo doch seit „Radio Gaga“ jeder weiß, dass man wahre Liebe nicht kaufen kann? Was neben Bestechung, Dauerbeschallung mit Comedy und Moderatoren mit zwanghaft guter Laune die Funkverbindung in meinem Fall aber besonders belastet, ist die zunehmende Ausrichtung aufs Lokale. Dies mag in Zeiten von Globalisierung und Konkurrenz aus dem Internet mancher als besondere Stärke des Mediums „Radio“ begreifen, aber die Kehrseite dieses Ultrakurzwellen-Funks ist ja auch: Von dem, was in der Welt geschieht, ist vor dem Weltempfänger heute nicht mehr allzu viel zu erfahren. Stattdessen werden die Gefilde bis zum Tellerrand des eigenen Sendegebiets so detailliert vermessen und ergründet, dass man in der jeweiligen Region heimatlich schon sehr tief verwurzelt sein muss, um das noch zu goutieren. Wenn dann auch noch vermehrt der Kontakt zu den Hörern gesucht und diese als Zeitzeugen zahlreicher Belanglosigkeiten in relevantem Maße zur Mitgestaltung des Programms eingesetzt werden, wird aus der vielgepriesenen Regionalität sehr schnell arge Provinzialität.

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Diese Stadtmusikanten kommen nicht aus Bremen, sondern samt und sonders aus Fernost.

Der ältere Mensch aber, der noch Anteil nimmt an der Welt und der einst vielleicht sogar vom Land in die Stadt geflohen ist auf der Suche nach kosmopolitischeren Daseinsformen, steht ratlos in der heutigen Radiolandschaft und träumt sehnsuchtsvoll von anderen Programmen und Heimaten: von einem Sender, der ganz ohne Wortmeldungen von Hörern auskommt, der auf Doppelmoderation weitgehend verzichtet (und stattdessen den Moderator wieder mit mir als Hörer sprechen lässt) und der ferner auch davon absieht, einen Hall oder sonstigen Effekt auf oder über die Stimmen zulegen. Denn die dadurch erzeugte Unnatürlichkeit und Künstlichkeit macht einem reinen Herzen den Sprecher ja sofort und automatisch zuwider. Ferner – und das wäre neben einer etwas reichweitenstärkeren Berichterstattung und Reportagekultur das Allerwichtigste – müsste auch das komplexe Musikproblem irgendwie gelöst werden.

Denn angesichts der inzwischen doch recht hohen Lebenserwartung und den großen Veränderungen in der Alltagskultur, ist es heute einfach nicht mehr möglich, den Menschen nach seiner Zeit auf dem Jugendsender einfach auf die Oldie- oder Klassikschiene abzuschieben. Denn auch wenn es schwerer wird: Ich habe musikalisch noch nicht abgeschlossen. Es kann nicht sein, dass ich dazu verdonnert bin, mir nun 30, 40 oder gar noch mehr Jahre lang immer und immer wieder dieselben alten Lieder anzuhören (von denen ich einerseits recht viele schon zu ihrer Zeit nicht mochte und andererseits ebenso viele nicht einmal aus meiner Zeit stammen). Aber kein Vertun: Auch das „Beste der 80er, 90er und von heute“ ist für mich keine taugliche Lösung. Denn die Dauerschleife, in der heute überall nur die Charts rauf- und runtergedudelt werden, hat nicht nur senderübergreifend die Radio-Hitparade (früher der Höhepunkt der Radiowoche) überflüssig gemacht, sondern belastet vor allem den Dauerhörer enorm. (Von WDR2, das mir eine Zeitlang als Möglichkeit erschien, zum Beispiel habe ich mich verabschiedet, als über Wochen jeden Tag (!) zwischen 13 und 14 Uhr „Lieblingsmensch“ von Namika gespielt wurde, ein Lied zumal, das auch ohne jegliche Wiederholung jeden Besitzer eines halbwegs akzeptablen Musikgeschmacks umgehend erbrechen lässt.)

Nun werden mir viele zum Streaming raten. Dass dies aber für eine echte, eingefleischte Radiohörerin völlig insdiskutabel ist, bedarf keiner Begründung. Ich hoffe stattdessen weiterhin auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und dessen Innovationskraft, die am Ende vielleicht doch einen akzeptablen Spartensender für die Frau im besten Merz-Spezial-Dragees-Alter gebiert. (You´ve yet to have your finest hour!) In einem ersten Schritt könnte die ARD vielleicht mal eine Themenwoche zu dem Problem veranstalten.

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Schlussverkauf im Bauchladen des Grauens

Die Hochzeit, so sagt man, sei der schönste Tag im Leben einer Frau. Dass ein damit in allerengstem Zusammenhang stehender Feieranlass den zweitschönsten Tag begründen würde, wäre somit logisch naheliegend, ist aber nicht unbedingt der Fall. Das weiß jeder, der schon einmal an jenem Event teilgenommen hat, das hierzulande in den letzten Jahren einen noch größeren Aufschwung erfahren hat als die AFD: der Junggesellenabschied. Eigentlich heiratet heute niemand mehr, ohne zuvor einen solchen zu veranstalten. Alt wie ich bin, kann ich allerdings kein bisschen verstehen, warum. Denn eine blödere oder sexistischere Veranstaltung als Junggesellen- oder Junggesellinnenabschiede kann man sich eigentlich kaum vorstellen, und außer niedrigen gibt es überhaupt keine plausiblen Beweggründe, so etwas auszurichten oder auch nur daran teilzunehmen.

Vor allem für die vielen jungen Frauen, die in den letzten Jahren mit zunehmender Begeisterung und abnehmenden Reflexionsvermögen jenem aus dem kulturellen Nichts kommenden bzw. aus dem angloamerikanischen Raum importierten (Miss-)Brauchtum frönen, fehlt mir jedes Verständnis. Ich meine, mit den Kumpels saufen zu gehen und Orte aufzusuchen, an denen fremde Frauen nur spärlich bekleidet sind, ist ja für manche Männer eine typische Vorstellung von Spaß, und um das zu tun, brauchen sie eigentlich meistens auch gar keinen Junggesellenabschied. Dass aber auch die üblichste und gleichzeitig übelste Ausprägung des weiblichen Abschieds vom Singletum und Fräulein-Sein daherkommt, als hätten sie sich Männer für Frauen ausgedacht, lässt eine alte Feministin wie mich vor Zorn aufstampfen wie Rumpelstilzchen.

Wann immer ich am späten Samstagnachmittag in der Innenstadt erschöpfte, glasäugige Mädchen mit Tütü und Bunny-Öhrchen oder Team-Braut-Fußballtrikots sehe, die – von keinem Zuhälter gezwungen – Kondome und Schnaps an jeden willigen männlichen Passanten verkaufen, denke ich: Man könnte stattdessen doch auch etwas Schönes machen. (Und im Grunde hätte jede dieser armen Bräute zu ihrem eigenen Bauchladen auch eine eigene #MeToo-Kampagne verdient.)

Kondome, die im Dunkeln leuchten, scharfer Hüpfer und Stringtangas im Abverkauf: Ich glaube, es ist vor allem dieses schlüpfrig Sexualisierte, Verklemmte der Veranstaltung, das mich ins Essen brechen lässt. Im prüden Amerika braucht man Ausbrüche dieser Art vielleicht. In Europa, so dachte ich, hätten wir diese Sorte Weltbild und Humor in den 70er-Jahren mit Filmen wie „In der Lederhose wird gejodelt“ hinreichend ausagiert und sodann hinter uns gelassen. Hier waren wir in Sachen sexuelle Befreiung doch schon einmal deutlich weiter, und auch unsere Männer- und Frauenbilder sowie unsere Vorstellung vom gemeinschaftlichen Miteinander der Geschlechter hatten sich inzwischen doch eigentlich weitestgehend von jenen der 50er-Jahre emanzipiert.

Wie hilfreich für das weitere kulturelle Fortkommen der Menschheit ist also nun eine Veranstaltung, die Männer und Frauen separiert wie derzeit sonst nur der IS, orthodoxe Juden oder andere religiöse Fundamentalisten und die ein Konzept von der Ehe als dem Ende der Freiheit propagiert? Wer braucht das? Und warum? Hier kann ich der Jugend nicht mehr folgen (und möchte es auch nicht). Geht es um Imitation einer als überlegen oder cooler betrachteten Kultur? Oder um schieres Herdentum, also darum, dass es alle anderen ja auch machen? (Diesem Motiv ist ja noch selten etwas Gutes entsprungen.) Oder ist es am Ende noch schlimmer, und es handelt sich um ein gigantisches Schneeballsystem der Rache, das einst mit der allerersten deutschen Auflage der amerikanischen Bachelorette Party in Gang gesetzt wurde und nun im Grunde nicht mehr zu stoppen ist, weil die bei dem Ereignis erlittenen Demütigungen und Traumata in jeder einzelnen Braut den rundum niederträchtigen, aber mehr als verständlichen Wunsch geweckt haben, allen 15 anderen ebenfalls das anzutun, was ihr zuvor von diesen widerfahren ist?

Sie sehen, reine Empathie, nicht miese Spielverderberei ist meine Motivation: Ich leide wirklich mit, und gerne würde ich helfen – so wie viele andere Internet-Akteure auch. Es gibt nämlich haufenweise Webseiten mit Ideen für den JGA. Dabei wäre die beste Idee doch, die Veranstaltung a. s. a. p. wieder abzuschaffen. Und genau hier setzt auch meine Lösung an: Ich schlage vor, die importierten, neuen, rückständigen Sitten, gegen einen guten alten, progressiven Brauch zu tauschen: den Polterabend. Der Vorteile und Segnungen wären viele.

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So viel Glück uns Schönheit sind der Lohn des Polterns.

Zum ersten bietet der Polterabend natürlich ebenfalls die gewünschte Gelegenheit für ein exzessives voreheliches Trinkgelage. Aber statt auf dem Weg zum maximalen Gute-Laune-Pegel im Minimum zwölf Stunden in albernen Kostümen durch die ganze Stadt zu hetzen, lassen sich Schnaps und Sekt und Sonstiges am Polterabend gemütlich und gut angezogen zu Hause im Stehen oder Sitzen konsumieren. Und weil Alkohol als Stimmungsmacher bekanntermaßen völlig ausreicht, kann dabei auf peinliche Spielchen gänzlich verzichtet werden. Eigentlich ist kaum mehr zu tun, als da zu sein und sich gut zu unterhalten. Auch im Zusammenhang mit Achtsamkeit wäre der Polterabend also noch einmal ganz neu zu betrachten.

Dass die Polterei trotz ihres archaischen Namens moderneren Konzepten von Gender folgt als die altbackenen amerikanischen Zöpfe, wurde bereits erwähnt und zeigt sich prinzipiell auf zweierlei Weise: Mann und Frau feiern hier nicht nur zusammen, es wird auch gemeinsam gekehrt. Der symbolische und emanzipatorische Gehalt dieser rituellen Handlung, muss dem aufgeklärten Leser nicht näher erläutert werden.

Der vielleicht größte Vorteil des Polterns ist jedoch seine große integrative Kraft. Denn wo der JGA mit seiner beschränkten Teilnehmerzahl separiert und exkludiert, sind beim PA die Türen weit geöffnet und prinzipiell alle willkommen. Auf der nicht existenten Gästeliste stehen hier nicht nur eine Handvoll Leute, die sowieso auch zur Hochzeit kommen, sondern auch entferntere Bekannte und Nachbarn, die man nicht alle zur offiziellen Feierlichkeit einladen kann, mit denen man die bevorstehende Vermählung aber vielleicht auch begießen möchte. So werden nicht nur ineffiziente personelle Redundanzen vermieden, sondern es werden dem Brautpaar stattdessen gleichzeitig auch größere Personengruppen gewogen gestimmt. Es erfolgt also eine zusätzliche Verankerung beider Brauleute im gesellschaftlichen Miteinander, ja mithin Integration.

Kurz, beim Polterabend sind alle gern zu Gast, niemand muss sich schämen oder fremdschämen, es wird einfach entspannt gefeiert, und ich habe schon von Paaren gehört, denen hat ihr Polterabend besser gefallen als ihre Hochzeit. Konservativere Kräfte, die trotzdem immer noch mit aller Macht an reaktionärem Brauchtum hängen, kann ich als alte Frau natürlich ebenfalls gut verstehen. Für sie böte aber der Karneval vielleicht eine noch bessere (und bedeutend traditionsreichere) Gelegenheit zum Feiern. Da ist man am helllichten Tag in der Innenstadt zumindest nicht der einzige alkoholbedingt Enthemmte im Kostüm.

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Wenn Donald Trump ein Auto wäre

Ich bin – typische Vertreterin meiner Generation – eine begeisterte Autofahrerin. Manchmal fahre ich einfach nur so durch die Gegend (um aus der Stadt rauszukommen, um den Frühling zu sehen, um ein bisschen Musik zu hören und ein Bier zu trinken). Der Anblick eines neuen Fiat Cinquecento erfreut mich, und ein gut gepflegtes Saab-900-Cabrio kann mich in schieres Entzücken versetzen. Kurz, ich bin des grundlosen Auto-Bashings und Öko-Terrorismus gänzlich unverdächtig.

Und doch ist auf deutschen Straßen seit ein paar Jahren etwas unterwegs, was auch mich plötzlich eine tiefe Sorge um unsere liebe Natur verspüren, vor allem aber ernsthaft um den gesellschaftlichen Zusammenhalt bangen lässt. Es nennt sich recht harmlos und ziemlich blöd „Sport Utility Vehicle“, aber es sieht aus wie eine Drohung, und wenn man erst mal hinter einem gefahren ist oder versucht hat, neben einem zu parken, dann weiß man ganz sicher, dass kein Platz mehr ist für einen auf der Welt.

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Nicht nur die Reifen sind inzwischen doppelt so groß: Die Evolution hat im Laufe der letzten 50 Jahre viele neue, schreckliche Arten hervorgebracht.

Der Volksmund nennt den neuen Fahrzeugtyp treffend, aber doch allzu liebevoll „Hausfrauenpanzer“. Der Begriff weist gleichwohl in die richtige Richtung, denn beim „Sport-Brauchbarkeits-Vehikel“ geht es mitnichten um Sport, sondern um den Vernichtungskrieg auf den Straßen, um das Recht des Stärkeren, quasi um den Häuserkampf um den Parkplatz. Denn Feindseligkeiten jedweder Art sind ja das einzige Gebiet, auf dem man in einem solchen plumpen Ding eventuell einen Vorteil hätte. (Feindseligkeit ist im Übrigen auch das einzige Gefühl, das diese Sorte Auto bei allen Guten und Gerechten auslöst.)

Was mich angesichts der steigenden Zahl der SUV-Neuzulassungen in Angst und Schrecken versetzt, ist allerdings nicht die Frage nach der Gesamt-CO2-Bilanz all der vielen neuen deutschen Kraft-Wagen, die die von Kuwait und China vermutlich noch deutlich übersteigt. Es ist auch nicht die Tatsache, dass der SUV-Fahrer bei einem Unfall in seinem Leopard 2 recht sicher sitzt, während der von ihm gewählte Fahrzeugtyp im Straßenverkehr nicht nur generell das Unfallrisiko erhöht, sondern auch beim Unfallgegner – andere, kleinere Autos, Motorradfahrer und Kinder – prinzipiell deutlich schlimmere Verletzungen hinterlässt als andere, kleinere Autos. Ich kann unter Umständen auch noch damit leben, dass mir der Vordermann auf der Straße dauernd seinen fetten Arsch entgegenstreckt und ich hinter einem SUV vom übrigen Verkehrsgeschehen nichts mehr sehen kann, während man vor mir – ungefähr auf Arschloch-Höhe – vermutlich den allerbesten Überblick genießt.

All dies ist sicher ärgerlich. Aber was mich wirklich beunruhigt ist, dass es in diesem Land eine ziemlich große Anzahl von Zeitgenossen gibt, deren ästhetisches Empfinden zutiefst gestört ist. Ich meine, Protzsucht,  Kraftmeierei und Allmachtphantasien, die sich in Autoform ausdrücken, sind per se ja nichts Neues, aber so hässlich kamen sie wirklich noch nie daher. Denn irgendwelche Schönheit oder gar Eleganz ist ja an diesen Bulldozern nicht zu entdecken, und man fragt sich unweigerlich, warum irgendjemand etwas so optisch Abstoßendes fahren oder gar besitzen möchte. Ein Porsche wäre mir deutlich leichter vermittelbar. (Aber der ist halt auch für viele viel zu teuer.)

Vielleicht ist es ein Ausdruck der neuen, abstoßenden Stimmung der Zeit. Der Trend zum automobilen Größenwahn stammt ja – wen wundert’s – aus den USA. Und nun überlegen Sie mal: Wenn Donald Trump ein Auto erfunden hätte (oder ein Auto wäre), würde es nicht genauso aussehen?

Aufkündigung des Klimaabkommens, Zäune gegen Mexikaner und Waffen für alle – da nimmt sich auch der verängstigte deutsche Egomane gerne ein Beispiel und überrollt uns im abgeschotteten Panzer (während er um das traute Eigenheim einen dieser hässlichen Drahtkäfige mit Steinen als Boll- und Mauerwerk gezogen hat). Jedoch, das vergiftet das Klima, und besonnene, friedliebende und versöhnungswillige Zeitgenossen wie ich drängen auf Abrüstung. Wie also werden wir diese neue, extreme Form automobilgewordener Rücksichtlosigkeit wieder los und bringen wieder ein bisschen mehr (Umwelt-)Freundlichkeit und deutlich mehr Schönheit in diese Welt? Nun, ich hätte da ein paar Vorschläge:

Liebe SUV-fahrende Familienväter und Durchschnittsverdiener: Wäre es ökonomisch nicht deutlich sinnvoller die vom Mund und Kindergeld abgesparten Leasing-Raten statt für den Angeber-Mithalte-Wettbewerb für einen schönen, gebrauchten Kombi auszugeben? Mit dem, was ihr an Spritkosten spart, könnt ihr dann vielleicht auch mal wieder mit der ganzen Familie am Goldstrand urlauben.

Ihr lieben namengebenden Hausfrauen und Gattinnen, wenn ich euch auf dem Supermarktparkplatz verzweifelt herumkurbeln und rangieren sehe, frage ich mich immer, ob ihr euch diesen SUV wirklich gewünscht habt oder ob das Geld nun einfach nicht mehr für einen Zweitwagen reicht. Im ersteren Fall: Habt wenigstens ihr den Mut, euch einzugestehen, dass die Sache eine Nummer zu groß für euch ist (und verlangt euren alten Golf zurück)! Eure Gatten würden das niemals tun, die vermeiden einfach das Einparken, entsorgen ihr vierrädriges Problem vor fremden Einfahrten oder blockieren beim Halten in der zweiten Reihe andere Verkehrsteilnehmer.

Ihr wohlhabenden, wichtigen, aber trotzdem klein gewachsenen Männer, die ihr euer Little-Man-Syndrom beim Autokauf kompensiert: Ein Aston Martin ist doch ein viel schönerer und stilvollerer Penis-Ersatz. (James Bond käme jedenfalls niemals im SUV daher!)  Alle anderen Großmannssüchtigen, die auch weiterhin gerne im schweren Gerät auffahren, dabei erhöht sitzen und auf andere herabschauen möchten, seien im Übrigen auf den Bus verwiesen.

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Generation Jammerlappen

Es gibt kein besseres Mittel der Abgrenzung zwischen Jung und Alt als die Musik. Das funktioniert zwar in beide Richtungen, besitzt allerdings nur in eine revolutionäres Potenzial. Ja, die Jugend kann, wenn sie gut ist, das Alte in Grund und Boden spielen. In der Vergangenheit ist das schon mehrfach gelungen. Was die deutsche Gegenwart angeht, habe ich da jedoch so meine Zweifel. Denn zwar haben wir hierzulande wieder so viele erfolgreiche deutschsprachige Popkünstler wie seit den Zeiten der Neuen Deutschen Welle nicht mehr, aber von Kraft, Knall und Krawall kann bei alldem nicht die Rede sein. Eigentlich ist es eher so: Ob Max Giesinger, Marc Foster, Wincent Weiss oder Andreas Boruani: Alle jammern und winseln im selben Lamento einher, und man weiß gar nicht, wer von diesen Schmerzensmännern der schlimmste ist.

Vielleicht Philipp Poisel, dessen Song „Wie soll ein Mensch das ertragen?“ zwar im Hinblick auf die deutsche Gegenwartsmusik die richtige Frage stellt, aber seinerseits leider auch gänzlich unerträglich ist. Gleichwohl, die Frage gilt, und zwar umso mehr, als sich diese erschreckende Resignation und Larmoyanz auf alle Bereiche erstreckt, die gemeinhin Gegenstand der Popmusik sind. Allen voran die Liebe: „Lieber Wolke 4 mit dir, als unten wieder ganz allein“, singt Philipp Dittberner mit trauriger Stimme, ein bisschen Beat und so einer kleinen Gitarre, die allem widerstrebt, was ich an Blechbläsern und Euphorie mit der Liebe, zumal in jungen Jahren, verbinde. Jetzt mal ganz ehrlich: Wem kann man denn ernsthaft diesen miesen Antrag machen? So dick kann gar kein Mädchen sein, dass es mit dem nöligen Philipp auf drittbeschissensten Wolke sitzen möchte. So kriegt man im Zweifelsfall noch nicht mal ein Tinder-Date.

„Ey, da müsste Musik sein“, findet ganz in diesem Sinne auch Wincent Weiss und wünscht sich im gleichnamigen Song zum Gefühl „Trompeten, Geigen und Chöre“. Allein, man weiß nicht, was er damit sagen will: Fehlen sie ihm jetzt, weil er sie fühlt, oder fehlen sie ihm am Gefühl? Die Molltöne, die neben einigem falschen Pathos auch hier vorherrschen, suggerieren Letzteres. (Falls das nicht stimmen sollte, hätte er in jedem Fall vergessen, dass es als Musiker seine Aufgabe wäre, die Geigen, Trompeten und Chöre zu liefern.) Ganz ähnlich ist es auch bei Max Giesingers „Einer von 80 Millionen“. Auch hier findet sich diese frappante Diskrepanz zwischen Tonlage und Text, die geradezu charakteristisch zu sein scheint für das zeitgenössische muttersprachliche Liedgut. „Wenn wir uns begegnen, dann leuchten wir auf wie Kometen“, behauptet der bärtige Barde, aber die Klänge, die er zur Illustration dieses interstellaren Großereignisses findet, wären auf einer herkömmlichen Beerdigung deutlich besser aufgehoben.

Ach, ich könnte ewig so weitermachen, denn wo man hinhört, wird gelitten, gejault und gejammert. Und man fragt sich unweigerlich, was diese armen Menschen denn alle so Schlimmes erlebt haben, dass sie derart im Herzen verzagt, mut-, saft- und kraftlos sind und allesamt singen wie Flasche leer. Der eine beweint so herzzerreißend wie vor ihm nur Heintje das Schicksal seiner Mutti (Max Giesinger „Und wenn sie tanzt“), andere feiern schon mit Mitte 30 wie alte Männer ein nostalgisch verklärtes Früher (Johannes Oerding „Hundert Leben“, Revolverheld „Das kann uns keiner nehmen“), und wieder andere anderen jammern sich in Richtung eines Aus- und Aufbruchs („Wincent Weiss „Ich brauch frische Luft“; Tim Bendzko „Ich bin doch keine Maschine“; Andreas Bourani: „Auf anderen Wegen), der allein schon deshalb nicht gelingen kann, weil man dazu auch mal was kaputthauen müsste.

Und ich? Ich kann das alles nicht nur kaum ertragen, ich kann es auch überhaupt nicht unterscheiden. Denn es klingt nicht nur das eine Lied von Mark Foster wie das andere, sondern Andreas Bourani klingt auch wie Mark Foster oder Clueso, der wiederum kaum von Max Giesinger zu unterscheiden ist, den ich seinerseits eigentlich immer mit Wincent Weiss verwechsle. Vielleicht ist es auch umgekehrt. Nein, im Ernst, hören Sie mal „Kogong“ von Marc Foster und dann „Erinnerungen“ von Clueso. Das ist doch ein und dasselbe Lied!

Ein zentraler Grund für diese Ähnlichkeit und Austauschbarkeit ist dieses dräuende Trömmelchen, das in fast allen Songs geht und eine Eruption ankündigt, die dann doch nicht kommt. Es ist dieses trügerische Trömmelchen, das die Stücke, jedwedes Thema, alle Lagen und falschen Gefühle auf denselben langweiligen, getragenen Kurs bringt. Aber es ist auch diese pathetische Uniformität, die (zusammen mit den ganzen schlecht gereimten textlichen Pseudo-Tiefsinnigkeiten) diese Musik und Selbstinszenierung junger Männer für mich als alte Frau so unerträglich macht. In meinem Alter will man nicht mehr den ganzen Tag sich selbst und das eigene Leiden zelebrieren.

Statt Selbstmitleid und Selbstinszenierung braucht die aussterbende Spezies einfach mehr Selbstironie – und vor allem ein bisschen Allegro und Upbeat. Welcher jungen Stimme sollen wir alten Frauen und Musikfreunde also nun lauschen? Helene Fischer? Nun, deren Lieder sind auch nicht schön. Aber auf jeden Fall deutlich energetischer.

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Auf zum Tanz ums goldene Steak!

Sind Sie schon bei Instagram? Nein? Dann wird es aber höchste Zeit! Denn Sie wollen doch auch dort mit dabei sein, wo das Leben im 21. Jahrhundert tobt?! Ich jedenfalls bin gottfroh, dass mich meine Medienberaterin Tanja schon vor einiger Zeit gezwungen hat, zum Zwecke der Promotion dieses Blogs auch ein kleines Konto bei Instagram anzulegen. Denn sonst hätte ich aufgrund meiner verabscheuungswürdigen altersbedingten Technikfeindlichkeit womöglich auch diesen Trend wieder völlig verpasst und nie mit eigenen Augen gesehen, welch schöne, seltsame Blumen auf dieser Wiese wachsen.

Zugegeben, promomäßig bringt die Sache rein gar nichts, denn der typische Instagram-Rezipient will ja das, was es hier gibt, genau nicht: überlange Texte und nahezu null Bilder. Und im Gegenzug weiß auch ich noch immer nicht so richtig, was ich dort machen soll. Denn jeden Tag ein schmuckes Selbstporträt beim Sport und/oder in hotter Trendbekleidung aufzunehmen, fällt dem älteren Menschen doch schwer. (Vielleicht bin ich auch einfach nur zu träge und unmotiviert.) Aber sonst? Was soll ich sagen: Ich bin begeistert!

Der Grund dafür lässt sich am besten anhand der jüngsten schlagzeilenträchtigen Skandal-Story illustrieren, die via Instagram geschrieben wurde, also am Beispiel von Fronck Ribéry, der sich infolge der Perversionen im Fußballsport ausschließlich von vergoldeten Steaks ernährt und – ganz Botschafter eines vorschriftsmäßig verinnerlichten Kapitalismus – folgerichtig dich und mich und alle anderen Schlechterverdienenden und Würmer bis ins achte Glied verflucht hat. Das hat manchem nicht gefallen. Aber dass er dies tat und vor allem tun konnte, ist genau das, was mir an Instagram so gefällt: Hier ist einfach noch Wahrhaftigkeit zu finden. Im Vergleich zu vielen anderen (sozialen) Medien, die von den rundum medienberatenen Zelebritäten unserer Tage rein zum Zweck der Selbstinszenierung und Fassaden-Reinigung bespielt werden, ist dieser Online-Dienst ein letztes Refugium der Authentizität (wenn diese meist auch nur im Moment der Entgleisung zu entdecken ist).

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In diesem Haushalt reicht es allenfalls für ein bisschen Silber am Kotelett.

Geradezu herzerfrischend ist es jedenfalls immer wieder, wenn TV-, Sport- oder Musik-Promis von nicht allzu solider sozialer Provenienz ihre Kleinkriege und Stammesfehden via Instagram austragen. Da sieht man dann die Botschaften der Familie Bushido an die ehemals befreundete Familie Abou Chaker und begreift sehr schnell, wie dünn der Firniss von Zivilisation und Seriosität bei manchen doch ist. Gleichzeitig sind die Nachrichten, die Boris und Lilly sich und uns derzeit via Instagram zukommen lassen, aber selbstverständlich auch weitaus spannender als jene, die dem Publikum früher im Rahmen der großen Liebes-Show präsentiert wurden. Sicher, Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, das weiß man schon lange. Aber live bei solchen Schlammschlachten dabei sein, das konnte man früher nicht.

Natürlich macht so etwas einer bösen alten Frau Freude, und auch die alten Medien profitieren ganz ordentlich davon. Die Häufigkeit, mit der es Neuigkeiten aus der Instagram-Welt heute auch jeden Tag auf die Seiten und in die Meldungen der unterschiedlichsten Presseorgane schaffen, jedenfalls deutet darauf hin, dass sich ganze Nachrichtenredaktionen mittlerweile der erwerbsmäßigen Instagram-Exegese widmen. Ja, es scheint, als ob der Online-Bilder-Dienst den DPA-Ticker mancherorts schon komplett abgelöst hat. In jedem Fall ist es inzwischen medienübergreifend gute journalistische Sitte, Instagram-Posts einfach im Wortlaut abzudrucken (ggf. übersetzt) und das Ganze dann als Meldung zu verkaufen.

Vor allem für den internationalen Society-Journalismus ist das Schnappschuss-Portal als zentrales Verlautbarungsorgan der A-bis-Z-Prominenz mittlerweile zur wichtigsten (wenn auch nicht seriösesten) Quelle geworden. Die Zeitungsberichterstattung über den allzu frühen Tod des unlängst verstorbenen TV-Auswanderers Jens Büchner zum Beispiel bestand fast ausnahmslos aus Instagram-Bulletins der Beteiligten: Die Ex-Frau, die Witwe und der Sender, sie alle meldeten sich per Post zu Wort – und fertig war der Bericht. (Bilder sind ja praktischerweise auch immer dabei.) So spart man sich Recherche- und Paparazzi-Kosten. Und wer könnte das in diesen notorisch knappen Zeiten nicht verstehen? Aber wäre es nicht anständig, den eigentlichen Verfassern der Texte wenigstens ein kleines Zeilengeld zu zahlen?

Meines Erachtens wäre es ferner nur konsequent – und auch eine willkommene Orientierungshilfe für den altmodischen und daher oft überkritischen Teil der Leserschaft –, dieser neuen Entwicklung auch mit einer neuen, eigenen Rubrik die verdiente Rechnung zu tragen. Statt oder ergänzend zu Seiten wie „Panorama“ oder „Aus aller Welt“ gäbe es dann auch eine mit „Instagram“ überschriebene Seite. (Man könnte sich das ja auch ein bisschen von den verantwortlichen Entrepreneuren aus den USA bezahlen lassen.)

Dort recht häufig zu lesen wäre dann vermutlich auch von meinen Freunden, den Influencern. Denn die gehören ja auch zu denen, die mit Hilfe der Win-win-Situation namens Instagram ordentlich absahnen. Man mag gar nicht überlegen, wie sehr. Immerhin soll die 2012 von Facebook aufgekaufte, weltumspannende Foto-Kollektion mehr als eine Milliarde Nutzer haben. Das ist Marktmacht. Und es sind natürlich auch diese Zahlen, die aus eigentlich absurden beängstigende Trends werden lassen. Zu diesen gehört zum Beispiel, dass sich viele 18- bis 33-Jährige ihre Urlaubsorte angeblich rein nach ihrer Instagramability aussuchen. Wie ich neulich einem seriösen Printmedium entnahm, tun dies heute schon 40 Prozent der Konsumenten aus dieser im Marketing zentralsten aller Zielgruppen.

Was ästhetisch daraus folgt, kann man sich freilich nicht nur denken, sondern ist in den Bildersammlungen der einschlägig Tätigen auch überdeutlich zu sehen: Angeberei, Uniformität und Langeweile. Beim Blättern in all diesen monotonen Ego-Galerien haben Menschen, die die Höhepunkte ihres Lebens noch mit einem Fotoapparat festgehalten haben, sofort unschöne, aber mehr als naheliegende Assoziationen an das Instagram-Pendant aus den alten analogen Zeiten: den Dia-Abend bei Bekannten (im Zuge einer sprachlichen und emotionalen Verarmung heute nur mehr Freunde genannt). Und diese Menschen wundern sich schon ein bisschen, wie ein soziales Medium, das in seiner zentralen Geschäftsidee auf das Prinzip einer einstmals mehr als Lungenkrebs gefürchteten Veranstaltung setzt, so erfolgreich sein kann.

Andererseits gibt es aber auch echte Stars, die wissen, dass man mehr können und tun muss, als sich selbst in in Geschäften erhältlicher Bekleidung abzulichten, wenn man andere Menschen zu Publikum machen möchte. Ich denke da zum Beispiel an die schaurig-schöne Natascha Ochsenknecht, die uns vorgestern erst mit unzensierten Detailaufnahmen ihres Vampir-Liftings erfreute. Ich denke aber auch an die unzähligen Hobbyfotografen, die nicht selten erstaunlich gute Aufnahmen posten (und kein einziges Mal selbst auf ihren Bildern zu sehen sind). Und schließlich gebe ich zu, dass es auch mir selbst ein bisschen Spaß macht, einen interessanten/schönen/schrägen Moment aus dem Alltag im Bild festzuhalten und mit anderen zu teilen. Ach, wie ich gerade so in Begeisterung schwelge, denke ich, dass ich tatsächlich noch nie bei Twitter war. Vielleicht sollte ich das auch mal versuchen und meinen täglichen Anteil an Unsinn und Aufgeregtheit in die Welt hinauszwitschern. Denn um Kopf und Kragen knipsen, das kann man sich ja nicht.

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Lockenwickler wären mir lieber!

Es ist keine Lüge, ja nicht einmal eine Übertreibung: Nur ein einziges Mal im Jahr schaue ich Privatfernsehen. Das ist immer im Januar. Dann gehe ich für gut zwei Wochen ins Dschungelcamp und lasse mir den Glauben an die Menschheit zurückgeben. Das klappt jedes Jahr ganz zuverlässig. Denn bei den Camp-Zuschauern haben – im Privatformat geradezu erstaunlicherweise – Blender und Schaumschläger, arrogante Angeber, attraktive Egomanen, bösartige Intriganten, vor allem aber auch alle Formen von gespaltenen Zungen keine Chance. Im Dschungel siegt am Ende immer das Wahre, Gute, Schöne, die reine Seele. Das ist umso erstaunlicher, als ins australische Fernsehreservat ja allenfalls die Zweitschönsten und die vom Künstlerischen her gerade nichts so Guten einziehen, darunter bisweilen die schlimmsten menschlichen Mogelpackungen.

Doch vor den Fernsehgeräten sitzt bei dieser Sendung offensichtlich ein Publikum, das auf Show nicht hereinfällt und Inszenierung nicht goutiert, sondern mit unbestechlichem Blick die Perlen von den Säuen trennt. (Überflüssig zu sagen, dass man sich mit Sex im Dschungel gar nicht gut verkauft.) Ja, fast scheint es sich bei der Dschungelcamp-Gemeinde nicht um ein Publikum, sondern um eine Wertegemeinschaft zu handeln, die so oldfashioned ist, dass man etwas Vergleichbares eigentlich nur noch am Sonntag in der katholischen Kirche findet.

Das ist die helle Seite von RTL, die dunkle ist die Werbung, der man als Zuschauer eigentlich nicht entgehen kann, denn so oft muss ja niemand aufs Klo. Und so registriere ich in den Camp-Pausen jedes Jahr erneut mit Staunen, für was inzwischen alles Werbung gemacht wird bzw. gemacht werden darf. Dieses Jahr waren es die Dildos, Vibratoren und anderen Must-Haves für die selbstbestimmte Frau von heute aus  einem Online-Shop mit dem völlig unverfänglichen Namen „eis.de“, die im üblichen Werbeeinerlei doch aufmerken ließen. Zugegeben, ich bin ein bisschen verklemmt. Aber ich bin in bestem altmodischem Kaufmannssinne auch fest davon überzeugt, dass gewisse Produkte (z. B. Fußpilz- und Hämorrhoidensalbe) ihre Kunden auch ohne Werbung schon immer gefunden haben und dass man gerade in diesen Bereichen allein mit Werbung ja meist auch überhaupt keine neuen Bedarfe schaffen kann. Muss man da alle anderen wirklich mit unappetitlichen Advertisments behelligen oder gar verstören?

Mit einem solchermaßen prämodernen Zartgefühl und dieser gewissen Vorliebe für hanseatische Zurückhaltung scheinen aber zwei echte Alleinstellungsmerkmale meiner Person gefunden. Oder wie anders ist es zu erklären, dass eine andere Form der öffentlichen Offerte außer mir als sittsamer alter Frau (und ein paar berufsmäßigen Feministinnen aus dem Nachbarort) niemand wirklich schockiert oder gar auf die Barrikaden ruft. Wovon ich spreche? Nun, in der Stadt, in der ich lebe, hängt großflächig Werbung für den Puff! Im Industriegebiet, aber auch in Innenstadtlage erfahren wir von Häuserwänden und riesigen Rollplakaten, dass in einem exakt benannten „Saunaclub“ sage und schreibe „100 neue Girls“ auf Kundschaft warten. Ich stehe fassungslos davor bzw. darunter und kann und will nicht glauben, dass dies inzwischen tatsächlich salonfähig ist.

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Lockenwickler stören heute nur noch selten das Straßenbild. Dafür sieht man andere unschöne Dinge.

Stattdessen hoffe ich sehr, dass sich die Leute nur deshalb nicht trauen, etwas dagegen zu sagen oder gar zu unternehmen, weil sie Angst haben, dass sie dann alle für prüde, unangenehm religiös oder sonst wie von gestern halten. Denn diese Angst kann ich Ihnen nehmen; sie ist völlig unbegründet. Indem diese Plakate abgerissen werden, sollen ja keineswegs alte Zwänge und Tabus wieder aufgerichtet werden, die im Zuge der sexuellen Befreiung zu Recht hinweggefegt wurden. Nicht die sexuelle Befreiung ist ja Ziel des Protestes, sondern ihr Gegenteil: sexuelle Unterdrückung und Ausbeutung (die im Windschatten der libertären Entwicklungen einfach mitgesegelt sind und dabei offensichtlich auch mit enttabuisiert wurden). Denn nichts anderes ist es ja, was im Puff stattfindet, und dies umso mehr in der beworbenen Form des effizienzgesteigerten, durchindustrialisierten Eros-Centers mit seinen ganz speziellen, ganz besonders menschenverachtenden Arbeitsbedingungen. Überlegt man einmal, wo all die „neuen“ Girls wohl herkommen, wie schön sie ihren Arbeitsplatz tatsächlich finden und ob sich dort alle 100 wirklich ganz freiwillig aufhalten, merkt man schnell: Kirche und Sexualmoral werden zur argumentativen Unterfütterung der instinktiven Ablehnung der plakativen Puff-Propaganda gar nicht benötigt. Kriminalstatistik und Strafgesetzbuch reichen völlig.

Dass sich die Tatbestände und Begrifflichkeit im Rotlicht-Milieu im Laufe der letzten 50 Jahre von „Kuppelei“, „Unzucht“ und „Sittenwidrigkeit“ hin zu „Sexarbeit“ und „Menschenhandel“ gewandelt haben, zeigt aber auch, dass selbst auf diesem Gebiet inzwischen der Kapitalismus die Kirche komplett besiegt hat. Und vielleicht ist dieser  fragwürdige Triumph der Grund, warum ich mich manchmal nach alten, weniger entfesselten Zeiten zurücksehne bzw. warum ich in den zeitgenössischen manchmal so fremdele (und dann so dringend ins Dschungelcamp muss). Denn es ist ja vieles freier, aber manches auch seelenloser geworden in den vielen Jahren, die ich schon auf der Welt bin.

Doch bevor ich mich nun in Tränen, Schwermut und Abscheu von der Moderne abwende, kehre ich noch einmal zu der Frage zurück, was heute kommerziell kommuniziert werden darf und was nicht (oder jedenfalls nicht mehr ohne Warnhinweis), und kann nicht umhin, hier doch eine gewisse Bigotterie zu bemerken. Denn fest steht ja: Für den Puff wird mit den Bildern von jungen, schönen Frauen geworben. Wo immer man aber sich unter Zuhilfenahme von Tabak ebenfalls ein wenig Lustgewinn verschaffen und auf diesem Weg lediglich den eigenen Körper ruinieren möchte (und dies ganz selbstbestimmt und freiwillig), muss man zur Strafe Nahaufnahmen von verfaulten Zähnen, Mundhöhlenkarzinomen und blauschwarz verfärbten Raucherlungenklumpen betrachten. Und nun frage ich Sie: Wäre es nicht gut und richtig und das Mindestmaß einer politisch korrekten Reaktion, den Puffbesuch auf dem Weg der Bildsprache ähnlich unattraktiv zu machen? Solange dies noch nicht geschieht, kann man hier meines Erachtens aber auch mit Spraydosen viel Gutes tun.

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Zu viel Verkehr auf dem „Information Highway“

In meinem nur wenige Tage zurückliegenden, wohlverdienten Urlaub habe ich in einem Zwei-Sterne-Hotel übernachtet und in einem Fünf-Sterne-Airbnb-Apartment. Daher kann ich nun von Schimmel erzählen und von fledermausgroßen Küchenschaben. Das ist schlimm. Aber noch viel schlimmer ist, dass es qualitätsmäßig eigentlich keinerlei Unterschiede zwischen den beiden Herbergen gab. Oder andersherum: Die kleinen schwarzen Freunde im Airbnb-Quartier haben mich doch recht kalt erwischt, während ich im Falle des Hotelzimmers vorher schon geahnt hatte, dass es nicht so schön werden würde.

Doch wie immer möchte ich nicht klagen, sondern dem Problem auf den Grund gehen, das da lautet: Wie konnte es zu so einem fatalen Fünf-Sterne-Irrtum kommen? Auf diesem langen und beschwerlichen Weg treffen wir natürlich gleich hinter der ersten Ecke auf den üblichsten Verdächtigen unserer Tage: das Internet respektive seine (a)sozialen Medien und Plattformen. Das hat zwar auch in diesem Fall kein Alibi, haben die vielen Homesharing-, Reise- und Buchungsportale doch kaltherzig nicht nur Legionen von Reisebüros den Garaus gemacht. Aber dank des weltweiten Zugriffs auf Informationen, Produkte und Dienstleistungen sowie der deutlich verbesserten Ausgangsbasis für privates Unternehmertum, die das Internet ja ebenfalls bietet, gibt es auch zahllose Mittäter.

So kann auf dem von vielen bürokratischen Fesseln und physikalischen Restriktionen befreiten Internetmarkt einerseits jeder Honk sein privates, handykameragefiltertes Silberfischchen-Aquarium für teuer Geld an ahnungslose Mitweltbürger vertickern. Andererseits führen die viel gepriesene Verknüpfung von Wissen und Information sowie die gesteigerten Möglichkeiten zu direkter Demokratie im Falle von Airbnb und anderen (Verkaufs-)Plattformen auch dazu, dass jeder Honk zu allem seinen Senf dazugeben kann (und dann natürlich auch will). Ja, oft soll und muss er es sogar. Denn elementarer Bestandteil solcher Portale ist ja das Bewertungssystem, das statt auf elitäre Expertise auf das Urteil und den Geschmack der breiten Masse setzt. Die ehrliche, interessenfreie Meinung von Otto und Jürgen Normalverbraucher ist es, die aufsummiert und auf den Durchschnitt gerechnet vermeintlich Transparenz und Objektivität ermöglicht. Die Messung von Qualität mt Hilfe von Quantität ist somit aber auch das Prinzip der Sterne-Wertung.

Dies ist umso erstaunlicher, als viele Lösungen, die das Internet und seine Akteure hervorgebracht haben, ja überraschend neu, clever, effizient und revolutionär waren. Da fragt man sich schon, ob es einen guten Grund hat, dass ihnen diesmal nichts Besseres eingefallen ist, als ein simples Großgruppenurteil mit Mittelwertrechnung, also herkömmliche Statistik, zu des Pudels Kern zu machen. Die Folgen jedenfalls sind fatal: Weil es die Masse (außer bei Steinigungen) eben nicht macht, sind all diese Bewertungssysteme im Grunde gänzlich untauglich und bieten dem suchenden Individuum keinerlei Orientierung. Ich meine, rechnen Sie bitte einmal selbst: Zehnmal fünf Sterne von Idioten – was macht das?

Nun liegt hinter all diesen verlockend funkelnden Sternen natürlich meist auch noch ein ganzes Universum an Text. Denn Otto und Jürgen schreiben sich im Kommentarfeld ja oft auch noch ihren ganzen Frust bzw. ihre ganze ungebremste Begeisterung über den letzten Urlaub und die dazugehörige Heimstatt von der Seele. Aber nicht nur bei Airbnb oder Tripadvisor gilt: Es ist eindeutig zu viel Verkehr auf dem Information-Highway. Mehr als fünf oder sechs Bewertungen lese ich jedenfalls nie. Und auch diese frohen Botschaften oder bösartigen Bekanntmachungen sind in der Regel wenig hilfreich, weil man einfach nicht weiß, wem man nun Glauben schenken soll: dem, der womöglich unter Zuhilfenahme zahlloser Komma- und Rechtschreibfehler das Produkt in den höchsten Tönen bejubelt, oder dem, der wortgewandt und wütend, aber eben doch ungerecht in seinem Zorn den Hersteller auf das Übelste beschimpft?

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Zum Kauf dieses Urlaubssouvenirs hat mir im Internet niemand geraten.

Big Data hin oder her: Man kauft doch immer nur die Katze im Sack. Weil einem nur Otto und Jürgen dazu raten. Und weil man Otto und Jürgen gar nicht kennt. Um aus dem nutzlosen Sternschnuppen-Scoring ein halbwegs aussagefähiges System zu machen, bräuchte man zumindest mal ein paar soziodemografische Daten und Hintergrundinformationen zu den beiden ominösen Herren, also eine Art Bewertung der Bewerter. Läse ich dann zum Beispiel „Otto, Lieblingssendung: ,Frauentausch‘“ oder „Jürgen, Leibspeise: Fischstäbchen“, wäre mir manches sofort klarer. Andererseits hat mir aber auch schon einmal meine beste Freundin ein Buch geschenkt, das ihr überaus gut, mir aber überhaupt nicht gefallen hat.

Ob man auf dem Weg der subjektiven, situativen, schnellen und leicht zu verändernden Urteile also überhaupt weiterkommt, ist fraglich. Erschwerend kommt hinzu, dass die all den Tiraden/Suaden zugrunde gelegten Bewertungsmaßstäbe nicht immer klar bzw. manchmal sogar schlichtweg falsch sind. Im erwähnten Urlaub zum Beispiel sollte eine Konsultation des unter dem Label „Tripadvisor“ gesammelten Schwarm-Wissens bei der Restaurantsuche helfen. Doch schon bald schien es, dass in diesem Guide Michelin der Mittellosen der Freundlichkeit der Kellner mehr Aufmerksamkeit geschenkt würde als den Künsten des Kochs. Wir zogen es daher vor, das unbekannte Terrain fürderhin unberaten zu erkunden. (Für einen Jahresurlaub im Sinne eines Abenteuers oder einer echten Entdeckungsreise ist das ja auch eigentlich die bessere Wahl.)

Angesichts der Tatsache, dass nicht nur in südlicheren Gefilden inzwischen an jeder zweiten Restauranttür ein grünes Tripadvisor-Schild hängt, hege ich ohnehin den Verdacht, dass entweder jeder, der schon einmal Schnitzel gebraten hat, mit einem solchen Exzellenz-Zertifikat bedacht wird oder dass man diese Bescheinigungen sehr gut selber basteln, wenn nicht gar irgendwo kaufen kann. Womit wir bei Amazon wären, denn da weiß man ja auch nie so genau, ob das Kundengutachten nicht doch gefakt, beauftragt und bezahlt ist. Da hilft es auch nicht, dass ich dort am Ende noch zusätzlich bewerten kann, wie ich die Bewertung fand – und sich die Katze dann ja auch irgendwie in den Schwanz beißt.

Bei Airbnb wiederum wird die Verlässlichkeit und Objektivität des Urteils durch die perfide Personalisierung und Privatisierung der Beziehung zwischen Mieter und Vermieter erheblich eingeschränkt. Dabei ist die ursprüngliche Airbnb-Idee des Homesharings inzwischen ja weitgehend tot. Nur in den seltensten Fällen sind es noch echte Privatwohnungen, in denen man unterkommt (und selbst die sind schon lange nicht mehr zum Schnapper-Preis zu haben). Obwohl hier entsprechend langsam auch mal eine professionelle Evaluation angebracht wäre, traut sich nicht nur aufgrund des grundlosen gegenseitigen Duzens kaum jemand zu schreiben, wie dreckig, klein, laut, billig eingerichtet und schlecht gelegen das Urlaubsapartment in Wirklichkeit war. Schließlich wird man auch selbst bewertet und will sich keine Retourkutsche einhandeln. So werden Negativurteile von vornherein abgewehrt und ausgehebelt, und es regnet Sterne, die sich auch mit aller Medienkompetenz der Welt nicht deuten lassen.

Das Retourkutschenproblem gab es früher auch mal bei eBay. Dort ist es inzwischen gelöst: Man kann einfach keine Negativbewertung mehr abgeben. Nur „positiv und neutral“ stehen dem gemeinen Nutzer als Votum zur Verfügung. Indem aber Kritik solchermaßen offen unterdrückt wird, ist letztlich auch die ganze Demokratie des Bewertungssystems ad absurdum geführt. Das Volk darf nur mehr die dünnen Fähnchen der Begeisterung schwenken. Um die negativ auffällig Gewordenen kümmert sich die Stasi das System selbst.

Das Volk braucht offensichtlich Führung. Und es braucht sie dringender denn je. Es braucht professionelle Reise- und Restaurantführer, berufsmäßige Buchkritik, die Stiftung Warentest, professionellen Background, Erfahrung, Kompetenzen und nachweisbare Qualifikationen, kurz Personen vom Fach, die Billy-Regale nicht mit Designermöbeln verwechseln und es verhindern, dass abgewohnte Hinterhof-Buden, die es niemals in den TUI-Katalog geschafft hätten, mit Fünf-Sterne-Deluxe-Prahlerei den Verbraucher in die Irre führen.

Damit wäre der Fall nun gelöst. Zu guter Letzt aber trotzdem noch eine Frage: Auf einer Skala von eins bis fünf – waren diese Ausführungen hilfreich für Sie?                                 Das dachte ich mir.

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Influenza

Beim Arzt, wo der ältere Mensch sich ja häufiger aufhält, nutze ich die Zeit gerne und gezielt zur Lektüre bestimmter, außerhalb des Wartezimmers völlig nutzloser Zeitungen. Denn Klatsch und Tratsch erfreuen ja prinzipiell altersunabhängig. Ein wenig geschmälert wird dies Vergnügen in letzter Zeit leider immer häufiger dadurch, dass mir die Leute, über die dort in erfrischender Kürze zweifellos pikante, brisante, ja in jede Fall entscheidende Insider-Informationen zu erhalten wären, völlig unbekannt sind. Von Tessa Thompson und Victoria Svarowski zum Beispiel habe ich noch nie gehört. Ein Grund für die zunehmende Fremdheit zwischen mir und den internationalen Lektüregegenständen mag sein, dass die wenigsten der in Wort und vor allem Bild porträtierten Celebritys älter als 40 sind. Dies legt drei messerscharfe Schlüsse nahe: a) Die Zahl der Stars auf dieser Welt, die älter als 40 sind, ist verschwindend gering, b) älter als 40 und ein Star zu sein, schließt sich prinzipiell aus, c) die Zeitungen verzichten aufgrund mangelnden Publikumsinteresses schlicht auf eine adäquate, demografisch repräsentative Berichterstattung. Egal, ob a), b) oder c): Es sieht nicht gut aus.

Sei es drum. Heute mag ich nicht über die schlimme, allgegenwärtige Altersdiskriminierung schimpfen. Denn immer wieder mache ich beim Lesen von „Gala“ ja auch neue, aufregende Entdeckungen. Heute zum Beispiel las ich ein Interview mit Mathieu Carrière (dessen Namen ich dank eines langjährigen Bunte-Studiums im letzten Jahrhundert jederzeit fehlerfrei schreiben kann) und seiner Tochter Elena. Dies Mädchen hat einen interessanten Beruf, von dem anders als von dem Mädchen seit einiger Zeit überall zu hören ist: Elena Carrière ist Influencerin.

Damit hat sie schon mit 20 die gleiche Karriere eingeschlagen und gemacht wie zum Beispiel auch Shirin David (?) und Dagi Bee (??)  und Bibi Beauty (!). Auch diese drei jungen Damen sind waschechte Influencer. Ja, es scheint, dass Influencer neben Castingshow-Teilnehmer der neue Traumberuf ist für junge Leute, die konsequent auf eine Ausbildung und Sinnhaftigkeit ihres Tuns verzichten und trotzdem mehr verdienen möchten als ein einfacher Uni-Professor oder Herzchirurg.

Sich bei der Agentur für Arbeit nach dem dazugehörigen Berufsbild zu erkundigen, hat wenig Zweck, die sind da nicht so schnell und zeitgemäß. Setzen wir also auf saubere, gründliche Recherche, googeln wir mal und lernen wir bald: Wir sprechen von Teenies, die Stars im Internet sind, weil sie sich selbst mit dem Handy filmen. Macht sich der von Neugier und Wissensdurst geplagte, erwachsene Mensch sodann ein noch genaueres Bild vom Wirken von Bibi und Dagi, folgt statt Aufklärung nicht selten Erschütterung. Was soll ich sagen? Ein Blick auf das Lebenswerk der Bibi Beauty lässt viele ratlos zurück.

Das tut Bibis Quasi-Prominenz jedoch keinen Abbruch. Im Gegenteil: Außer für ihre zahlosen Follower bzw. wegen ihrer zahllosen Follower ist Bibi allem für die Werbung interessant, die sich der Jugend und ihrer neuen Verkaufskanäle gerne bedient. Sind Influencer also so etwas wie Klementine, Herr Kaiser und Frau Sommer früher, nur dass sie statt im Fernsehen im Internet agieren? Eher nicht. Denn Klementine und Co. waren Kunstfiguren und machten Werbung für ein Produkt. Influencer dagegen sind ganz und gar sie selbst und promoten auch nur sich selbst. Sie sind also Produkt und Marketing-Instrument in einem. Das aber wiederum ist: der schiere Selbstbezug. Generation Selfie?

Ganz so einfach ist es nicht. Denn jenseits ihrer Verdienstmöglichkeiten, die ehrliche Arbeit noch mehr als Fußballergagen beschämen, sind die Influencer ja weniger Stars als Instrumente. Sie sind vor allem: perfekte Rädchen im Getriebe des Internets. Denn wo das Netz uns Fischchen am liebsten die ganze Zeit damit beschäftigt hielte, dass wir uns etwas anschauen oder dass wir etwas kaufen, arbeiten die Influencer gleich an beiden Zwecken unermüdlich mit: Sie produzieren in fehlgeleitetem jugendlichen Eifer ganz umsonst einen Großteil der für lückenlose Berieselung nötigen Filmchen und helfen gleichzeitig eifrig dabei, alle möglichen Produkte zu verkaufen. Diese unschlagbare Kombi ist vermutlich das Geheimnis ihres für denkende, fühlende Menschen, soziale Schwärmer und Antikapitalisten nur schwer zu ertragenden Erfolgs.

Gleichwohl muss auch der älteste und ungeneigteste Betrachter zugeben: Bibi ist ein gewisses Minimum an eigener Leistung nicht abzusprechen. Bibi hat sich diesen ganzen Unsinn immerhin erst einmal selbst ausdenken müssen. Aber wie es immer ist: Wo die Pest ist, will die Cholera hin. Wo etwas gut läuft, folgen Generika und Trittbrettfahrt auf dem Fuße. Und so strömt es auch aus anderen Berufszweigen derzeit nur so in das neue, boomende Business. Es wird reihenweise umgeschwenkt und umgeschult, sodass andere historisch gewachsene Berufe und ehedem völlig ehrbare Branchen auf einmal gänzlich zu verschwinden drohen. Die Fußballer-Gattin? Der Prominenten-Abkömmling? Haben die Nase voll davon, in der zweiten Reihe zu stehen! Sie drängen in die erste und reklamieren unter dem neuen Label plötzlich Eigenständigkeit! Cathy Hummels? Influencerin! Anne Kathrin Brömmelkamp? Eben!

Aber auch manche allzu früh mit dem Consilium abeundi bedachte GNTM-Absolventin sieht plötzlich ihre Chance und macht auf dem zweiten Bildungsweg noch schnell eine Influencerin aus sich. Und so entsteht dann völlige Verwirrung auf dem Arbeitsmarkt. Ja, wo immer man in den alten Medien heute nicht so recht weiß, was der junge Mensch auf dem Foto eigentlich macht, schreibt man einfach immer Influencer drauf. Die Bild-Zeitung veranstaltet in ihrer Verwirrung inzwischen schon ein eigenes Event zu Ehren der neuen, einflussreichen Branche. (Man will ja keinen Trend und Klick verpassen.) Noch kommt zu dieser Veranstaltung niemand, den man kennt, aber es könnte sein, dass sich der Berufsstand bald schon für neue Altersgruppen öffnet, und dann sind nächstes Jahr auch Natascha Ochsenknecht, Marc Terenzi und Claudia Effenberg mit dabei.

Ehrlich gesagt sehe auch ich hier meine Zukunft. Ich habe nichts Richtiges gelernt, ich habe jetzt einen Blog, und gegen unverdient verdienen habe ich auch nichts. Ich denke, der erste Schritt ist getan.

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Umstürzende Reissäcke (ohne Video)

Ich bin ja, was sicher auch an meinem Alter liegt, eine leidenschaftliche Zeitungsleserin. Gleichwohl studiere selbst ich inzwischen nicht mehr alle Tageszeitungen und Magazine in Papierform am Frühstückstisch, sondern verschaffe mir recht häufig morgens im Büro auch online einen Überblick über die internationale Nachrichtenlage. Das Spektrum des rezipierten digitalen Schrifttums ist breit, die Zeit ist es jedoch oft nicht in gleichem Maße, und so reicht die morgendliche Neugier meist nur von Bild bis Spiegel online (nicht alles dient auch der Meinungsbildung).

Um noch mehr Zeit in Geld zu verwandeln, trage ich mich jedoch seit einiger Zeit mit dem Gedanken, die Lektüre in Zukunft auf eine der beiden Online-Publikationen zu reduzieren oder in täglicher Alternierung zwischen den beiden zu wechseln. Denn wo sich die gedruckten Blätter auf vielfältige Weise unterscheiden, ist das bei den Online-Versionen ja nicht mehr unbedingt der Fall.

Überraschend häufig kann man zum Beispiel auf beiden Internetseiten am gleichen Tag die gleichen DPA-Meldungen lesen, in identischem Wortlaut. Erschreckend nah beieinander sind die beiden Online-Auftritte vor allem aber auch da, wo es um ein Phänomen geht, das mich im besten Fall nur beim Lesen stört, in den schwärzesten Stunden jedoch den Rückfall des Abendlandes in Analphabetismus und Illiteralität vor meinem geistigen Auge rot-weiße Gestalt annehmen lässt. Die Rede ist von den zahllosen Videos, die in den Online-Ausgaben der großen deutschen Zeitungen und Magazine immer häufiger das geschriebene Wort ergänzen respektive ablösen. Ich persönlich spreche lieber von „Filmchen“, denn inhaltlich kommt das Dargebotene ja in den meisten Fällen über den Diminutiv  nicht hinaus.

„Mit Video“ – was unter diesem Label so lockend annonciert wird, ist thematisch breit gestreut. Von aufsehenerregenden Tier-Dokus („Krabbe liefert sich Schwertkampf mit Koch“, Bild.de) über spektakuläre Katastrophenfilme („Mann findet Maus in Getränkedose“, Bild.de) und Action-Streifen („Mad Mike schießt sich selbst 570 Meter in die Luft“, Spiegel online, SPON) bis hin zum Wetterbericht („Orangefarbener Schnee in Osteuropa“, SPON) reicht das Matinee-Programm. Für Einheit in dieser Vielfalt sorgt allein die Bildqualität: Meist handelt es sich um verschwommene, verwackelte Handyaufnahmen, die auf Schulkinder aus aller Welt als Urheber schließen lassen. Ganz ähnlich wie mit der optischen Gestalt verhält es sich auch mit der Relevanz des Gezeigten, die gemeinhin durch einen Sack Reis in China repräsentiert wird.

„Zug rammt Laster von Gleis“ (SPON), „Aggro-Gans attackiert Soldaten“ (Bild.de), „Truck wendet direkt am Abgrund“ (beide): Um nicht die Allgemeinheit mit diesem Unsinn zu behelligen, gab es für solcherart Filmchen früher im TV eine eigene Sendung mit dem Titel „Pleiten, Pech und Pannen“. So viel Rücksicht wird heutzutage nicht mehr genommen, und so finde ich mich manchmal – zumindest im Falle des Online-Spiegel – in ungläubigen Staunen wieder, dass mir diese Auswahl an Informationen wirklich auf einer der größten deutschen Zeitungs-Internetpräsenzen geboten wird.

Eben weil ich es kaum glauben kann, frage ich, treuherzig wie ich bin, natürlich sofort, was der gute Grund dafür sein kann, dass man hier seinen guten Ruf so leichtfertig aufs Spiel setzt. Will hier eine Informations-Avantgarde über die neuen Medien auch neue, ehedem eher bildungsferne Zielgruppen ansprechen und sie – quasi auf dem Weg der Subversion – für, hm, linkes Gedankengut gewinnen (und somit auch gleich der AFD abjagen)? Kommt SPON also direkt von Sponti? Oder geht es darum, das Zeitungssterben mit einer breiten Offensive zu kontern, die, alle Stärken des Internets nutzend, auf Multimedialität setzt, also quasi auf allen Kanälen feuert?

Das Zeitungssterben scheint mir in jedem Fall ein Schlüssel zu sein. Und natürlich habe ich in diesen zeitungsfeindlichen Zeiten auch ein wenig Verständnis für eine personell unterbesetzte Redaktion, die die lange, lange, lange leere Seite jeden Tag mit irgendwas füllen muss (außer mit den preiswerten Erzeugnissen aus Handy-Wood, auch gerne mit unerfreulich vielen Teasern für Artikel der Bezahlversion; aber das ist schon wieder ein anderes Thema). Für gänzlich ausgeschlossen hingegen halte ich es, dass es allein um die Werbung geht, die den Filmchen vorgeschaltet ist, die niemand abschalten und der so auch niemand entgehen kann.

Ich favorisiere ganz eindeutig die Avantgarde-Theorie und habe auch einige gute Argumente dafür. Denn nicht nur bei Spiegel Online geht man in puncto filmische Berichterstattung inzwischen völlig neue Wege und kauft nicht mehr nur im Amateur-Geschäft, sondern dreht oder gestaltet beherzt auch immer mehr selbst. Und wer das Ergebnis dieser erstaunlichen Experimente sieht, der hat nicht selten das Gefühl bei etwas völlig Neuem dabei zu sein. Denn es handelt sich zumeist um seltsame Zwitterformen, geboren und erfunden allein, um uns vor unergründliche Rätsel zu stellen.

Da sind zum einen die Videos der Kategorie „moderner Stummfilm“. Das sind Aufnahmen von den diversen Orten des nachrichtenrelevanten Weltgeschehens, die aber – ganz im Zeichen der verfremdenden Freiheit der Kunst – ihrer originalen Geräuschkulisse beraubt sind und auch keinen störenden Sprecher mehr kennen. Stattdessen sind sie mit sehr, sehr seltsamer Musik unterlegt, und Untertitel präsentieren die Nachricht, erklären also, was zu sehen ist. Hier wird der Film quasi über den Weg des Wortes der Zeitung einverleibt. (Ich weiß auch nicht, warum ich immer an den „Daily Prophet“ bei Harry Potter denken muss.)

Die zweite Form, das gänzlich eigenproduzierte Video, geht eher den umgekehrten Weg und macht aus der Zeitung selbst den Film. Da sieht man dann den Kulturredakteur plötzlich vor der Kamera, wie er – akademisch-seriös in grauem Hemd unter blauem V-Ausschnitt-Pullover (oder umgekehrt) – druckfrisch und ohne jedes Zeichen von Mündlichkeit (und auch sonst recht reglos) eine Filmkritik einspricht, wie sie wortwörtlich auch im Magazin erscheinen könnte. Doch nicht nur im Kulturressort ist die multimediale Revolution zu Hause. Auch in der tagesaktuellen Reportage aus dem Inland sind selbst gedrehte Bewegtbilder, die ganz auf den Journalist und seinen Text setzen, ein probates Mittel der Information.

Da steht dann ein bestenfalls durchschnittlich aussehender Jungreporter mit Bart auf der Straße vor der Essener Tafel, erzählt, was man in der Zeitung zum Thema längst gelesen hat, bleibt beharrlich an seinem Platz und verzichtet – ganz der strengen neuen Form verpflichtet – konsequent darauf, irgendjemand der vielen Leute um ihn herum zu interviewen oder gar einen der Verantwortlichen vor der Kamera zu Wort kommen zu lassen. Stattdessen übernimmt der Bärtige auch deren Part und referiert – indirekte Rede statt filmischer O-Ton -, was diese Leute gesagt haben, und eigentlich wird in den ganzen 1:21 Minuten auch kaum etwas anderes gezeigt als er und sein Bart.

Respekt, ihr lieben Freunde, das haben wir so noch nie gesehen! Zumindest nicht in der Zeitung. Wir alten Leute und Spielverderber aber erinnern uns sofort: ans Fernsehen, dieses öde Seniorenmedium. Da macht man ganz Ähnliches, und zwar bei Mittelrhein TV, Franken Fernsehen und anderen lokalen TV-Sendern. Keine Frage, denen ist der Video-Club von Spiegel Online schon ganz dicht auf den Fersen. Wenn die Mitglieder jetzt zum Beispiel ab und zu sonntags mal „Weltspiegel“ oder dienstags „Report“ gucken, dann kann irgendwann noch etwas ganz Großes daraus werden.

Doch schon heute ist natürlich angesichts all dessen vor allem die Frage: Warum will die Zeitung jetzt auch noch Fernsehen sein? Warum will man unbedingt mit dem TV konkurrieren, wo doch ganz offensichtlich das Geld und das Know-how dafür fehlen (und es „Spiegel TV“ ja auch schon gibt). Nun, vermutlich weil der deutsche Qualitätsjournalismus, ehrgeizig und investigativ, wie er nun einmal ist, uns nur so auf die Spur der ganz großen Fragen setzen kann.

Diese aber lauten: Wieso darf in den rot-weiß untertitelten Filmchen auf keinen Fall gesprochen werden? Ich meine, wenn die Leute das doch gucken, weil sie nicht lesen wollen/können? Und wer komponiert eigentlich diese noch nie gehörten, avantgardistischen Klänge, die in ihrer verstörenden Einfachheit kühn noch jene Grenzen überschreiten, die Fahrstuhl- und Kaufhausmusik einst bereits erschreckend weit verschoben haben? Ist hier eventuell schon ein neuer, allein auf die Filmchenmusikproduktion spezialisierter Berufszweig entstanden (und kann man da eventuell auch als völlig unmusikalischer Mensch außerkategorial viel verdienen)?

Und wie geht es weiter? Werden sich die deutschen Zeitungen irgendwann wieder auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren? Oder werden sie mit Hilfe ihrer ins Internet verlängerten Arme der Eliminierung von Schriftlichkeit weiter Vorschub leisten und damit quasi auch an ihrer eigenen Ausrottung weiterhin unbeirrt mitarbeiten? Die Antwort steht in den Sternen. Die aufmerksame Beobachtung der sich stetig verändernden Medienlandschaft jedoch zeigt: Die multimediale Offensive geht ungebrochen weiter: Selbst bei Bild Online gibt es neben Videos seit Neuestem auch Podcasts („Hören Sie mal, wie YouTube einen dick machen kann“). Es sieht so aus, als müsste sich jetzt auch das Radio ganz, ganz warm anziehen.

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