Adventskalender

Welchen Einfluss das Englische auf unsere Sprache hat, haben wir in den letzten Wochen schon an einigen Beispielen gesehen. Dass dieser Einfluss sich sogar bis auf die Ebene der Interpunktion erstreckt, werden wir heute entdecken. Denn es gibt da ein Satzzeichen, das ähnlich wie eine invasive Tierart peu à peu alles verdrängt, was hierzulande im schriftlichen Text so kreucht und fleucht und der Verdeutlichung syntaktischer Strukturen dient: Punkt, Komma, Doppel- und Strichpunkt zum Beispiel. Diese vier Freunde sind aktuell ernsthaft in Bedrängnis, denn egal, um welche Art von Texten es geht – Roman, Zeitungsartikel, Sachtext oder Schulbuch –, überall macht sich an ihrer Stelle der Gedankenstrich breit.

Dabei sind dessen Einsatzmöglichkeiten im Deutschen eigentlich sehr beschränkt: Den Regeln des Duden folgend markiert man nur einige wenige sprachliche Umstände mit dem Gedankenstrich, etwa einen Einschub in den Satz, wie wir ihn oben finden. Keineswegs kann der Gedankenstrich so einfach Komma, Strichpunkt oder gar Punkt ersetzen. Aber das schert inzwischen niemand mehr. Die Schreibenden des Social-Media-Zeitalters lieben den Gedankenstrich und verwenden ihn ähnlich universell, wie es im Englischen üblich und auch erlaubt ist.

Was mich an der neuen Interpunktions-Mode so ärgert, ist aber gar nicht so sehr der Regelverstoß, sondern erneut die Wichtigtuerei, die sich hinter dem inflationären Gebrauch oft ebenfalls verbirgt. Denn wenn man sich einmal genauer anschaut, zu welchem Zweck dieses Zeichen gesetzt wird, dann stellt man fest, dass es in 99 Prozent der Fälle die Kunstpause ist. Die Kunstpause vor den unheimlich wichtigen, originellen Gedanken, die der Autor denkt. Diese Strich, der das Potenzial zur Angeberei schon im Namen trägt, lenkt die Aufmerksamkeit damit vor allem auf den Schreibenden und unterstreicht dessen Gelahrtheit. Damit ist der Gedankenstrich sozusagen das Selfie unter den Satzzeichen.

Er ist aber auch so etwas wie der neue Deppen-Apostroph. Denn zum einen wird dieser Strich ja, wie bereits dargelegt wurde, oft falsch gebraucht. Zum anderen sind die damit hervorgehobenen Gedanken bei näherem Hinsehen oft gar nicht so bemerkenswert. Ja, man könnte fast sagen: Je seichter die Materie, desto länger der Strich. Eigentlich ist es sogar so: Gerade da, wo nicht allzu viel gedacht wird, ist dieser Strich besonders häufig zu finden. Ich muss daher nicht erwähnen, dass der Gedankenstrich in den Psycho-Schwurbelwissenschaften das Top-Satzzeichen ist. (Er zahlt eben enorm auf das Image ein.)

Möchte man die Schwindler und Blender entlarven, hilft wieder die Weglassprobe, die wir gestern schon so erfolgreich eingesetzt haben. Zu diesem Zweck lässt man den Gedankenstrich einfach mal weg (oder ersetzt ihn durch ein Komma) und schaut, ob sich an der Bedeutung dies Satzes dadurch irgendwas ändert. Wenn nicht, ist er überflüssig, zum Beispiel hier: „Dies zeigt, welche Veränderungen in kurzer Zeit möglich sind – ganz zu schweigen davon, welche Prozesse sich in der Multiplikation und langfristig auf gesellschaftlicher Ebene fortsetzen können.“ Hier hätte es ein Komma völlig getan, denn „ganz zu schweigen“ transportiert das Unerhörte ja schon in völlig ausreichender Weise auf der Wortebene. In vielen anderen Fällen ist es ähnlich.

Aber ich fürchte, hier kämpfen wir schon gegen Windmühlen, und am Ende wird der Gedankenstrich triumphieren. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass sich die schiere Masse durchsetzt und alle alten Regeln hinwegspült. Bis es so weit ist, leisten wir in diesem kleinen Kalender aber noch ein wenig Widerstand, sammeln alle falschen und überflüssigen Strichchen ein, trennen sie vorschriftsmäßig von den Gedanken und lassen Sie dann als Kommas recyclen.

Das Recycling von Gedankenstrichen steckt noch in den Kinderschuhen.

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