Adventskalender

Trommelwirbel, Türchen auf und ein Spalier gebildet: Hier kommt der Sieger respektive Verlierer unseres diesjährigen Adventkalenders. Platz eins auf unserer Roten Liste der toxischen Wörter, der ansteckendste und für die mentale Gesundheit schädlichste Begriff überhaupt, das Wort, das ich in 2024 und auch danach nie, nie wieder hören will, ist: „NARRATIV“.

Ich weiß nicht, wo mir diese pestbehafteten acht Buchstaben dieses Jahr überall begegnet sind und wer in den Top-Schwätzrunden der Republik nicht alles mit diesem Lieblingswort der Intelligenzia jongliert hat. Aber Fakt ist ja: Wer nicht mindestens einen Satz mit „Narrativ“ sagen kann, wird bei Markus Lanz gar nicht erst eingeladen.

Ich denke, wir müssen uns mit der echten Bedeutung dieses Wortes und seiner Abgrenzung von anderen Begriffen wie etwa „Narration“, „Mythos“, „Storytelling“ oder auch „Framing“ hier gar nicht lange aufhalten, darum bekümmert sich ja auch sonst keiner. Die kleine Wikipedia-Definition reicht also vollkommen: „Als Narrativ wird seit den 1990er-Jahren eine sinnstiftende Erzählung bezeichnet, die Einfluss auf die Art hat, wie die Umwelt wahrgenommen wird.“

Viel besser als anhand komplizierter sozialwissenschaftlicher Konzepte und Theorien lassen sich Bedeutung und Verwendungszweck dieses Wortes ohnehin an einem praktischen und für alle nachvollziehbaren Beispiel erläutern. Neulich Sonntagsabends äußerte der Kommissar im „Tatort“ nach dem Verhör den Verdacht, dass der Tatverdächtige lügt, und er sagte zu diesem Zweck: „Er möchte vielleicht erneut Narrative schaffen.“ Hier sehen wir einmal, wie weit das Narrativ auf seinem zweifelhaften Siegeszug schon gekommen ist (und wie gut ausgebildet die Drehbuchschreiber bei den Öffentlich-Rechtlichen sind). Wir sehen drittens aber auch, was dahintersteckt: Es geht in der Regel schlicht darum zum Ausdruck zu bringen, dass jemand nicht die Wahrheit sagt.

Dass man es aber nicht so klar ausdrückt und auch nicht von Lüge spricht oder von Fake News, hängt damit zusammen, dass man selbst viel besser dasteht, wenn man das N-Wort ins Spiel bringt. Denn das klingt deutlich gelehrter. Derjenige, der das Narrativ als Narrativ erkennt, kann sich gleich einer gewissen intellektuellen Leistung rühmen, und seine Erkenntnis kommt fast als Ergebnis einer objektiven wissenschaftlichen Analyse daher. Der Sprecher wirkt so natürlich viel überzeugender und integerer, als wenn er den oder die anderen einfach einer Lüge bezichtigen würde. Weil aber dennoch immer nur das Narrativ der anderen ein Narrativ ist, geht es im Grunde aber trotzdem meist nur um schnöde Rechthaberei.

Dass heute so viel von „Narrativen“ die Rede ist, hat sicher auch damit zu tun, dass es in einer so pluralistischen Gesellschaft wie der unseren nicht nur eine Wahrheit gibt, sondern eine Vielzahl von „Erzählungen“. Wir leben heute also praktisch in „1001 Nacht“. Aber die Behauptung, dass alle anderen immer nur Märchen erzählen, scheint mir trotzdem wenig hilfreich, wenn es darum geht, mit diesen vielen Wahrheiten konstruktiv umzugehen. In jedem Fall ist immer Vorsicht angebracht, wenn irgendwo einer von Narrativen redet. Man könnte sonst auch in die Falle von Pseudointellektualität und Pseudologia Phantastica tappen.

Ich jedenfalls mag dieses inzwischen auf allen Schlachtfedern zur tauglichen Waffe gewordene Wort überhaupt nicht. Denn außer dass es eine besonders hinterhältige Form euphemistischer Sprechweise und einlullender Verschleierung ist, macht es ja auch alle Geschichten irgendwie verdächtig, also auch die, die gar nichts anderes sein wollen. Zugleich wird bei diesem Konzept der vielen Narrative im Grunde auch die Existenz von Wahrheit generell negiert, und auch da weiß ich nicht, ob mir das gefällt.

Von all den Begriffen und Ausdrücken, die hier in den letzten Wochen aufgetaucht sind, wäre Narrativ wohl auch deshalb das einzige Wort, von dem ich mir ziemlich sicher bin, dass es mir nicht auch mal selbst rausrutschen würde. Ich überlasse das Sprechen, vor allem aber auch das Schaffen von Narrativen lieber anderen. Daher öffne ich nun ein letztes Mal das Türchen, et voilà:

Das heutige Narrativ: Lukas 2,1-2,20.

Postscriptum: Befreit von all dem Ballast und geläutert von allen bösen Gedanken und jedwedem Zorn, möchte ich auf keinen Fall versäumen, mich bei allen zu bedanken, die in den letzten Wochen hier dabei waren oder ab und zu vorbeigeschaut haben (ich habe mich über jedes Echo und Feedback gefreut). Ich wünsche Ihnen und euch:

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