Adventskalender

Eigentlich wollte ich heute einmal über den Tellerrand des Toxischen hinausschauen und mit voller Absicht die guten Dinge im Leben sehen. Betrachten wollte ich genauer gesagt Phrasen, die zwar ebenfalls recht abgedroschen sind, die aber – anders als die bisher hier behandelten – eigentlich alle lieben. Ich dachte zum Beispiel an die Sprüche und Würzwörter, ohne die es beim Kartenspielen praktisch nicht geht. Einige davon bilden so etwas wie einen universellen Spieler-Code, andere sind nur in der jeweils individuellen Spielerrunde geläufig und stiften dort sozusagen als Running-Gag Identität. Natürlich kam mir Pikus, der alte Waldspecht, in den Sinn, aber auch die zahlreichen Fachbegriffe beim Doppelkopf, die ebenfalls ihre Wurzeln im Tierreich haben und alle Anfänger regelmäßig zur Verzweiflung bringen.

Auch die stets wiederkehrenden Zeilen meiner fast 90-jährigen Mutter hatte ich im Ohr, bei der es immer dann gefährlich wird, wenn sie beim Rommé plötzlich alte Operettenmelodien anstimmt: Auf „Von der guten Barbara hört man saubre Dinge da“ folgt zuverlässig ein Rommé Hand. Bei Doppelkopf wiederum quittiert meine Freundin Anke seit Jahren und Jahrzehnten das glücklichere Blatt und Spielgeschick der anderen mit dem Satz: „Der Bulle fällt hinten steil ab.“ Ich hätte viel Geld darauf verwettet, dass es sich dabei um einen echten Karten-Klassiker handelt. Aber Google findet im ganzen weltweiten Netz keine einzige Spur dieses Spruch. Keine einzige. Das finde ich wirklich erstaunlich.

Ach, es hätte noch manches andere zu explorieren gegeben, wenn mir heute Morgen nicht plötzlich ein Satz begegnet wäre, der mir jäh in Erinnerung rief, wofür ich eigentlich hier bin: um ein wenig dazu beizutragen, dass mit Mutter Sprache in dieser Welt etwas sanfter und rücksichtsvoller umgegangen wird. Diesem Zweck würde es in jedem Fall dienen, wenn in Zukunft alle dazu übergehen würden, wieder ausschließlich Briefe zu „adressieren“, nicht aber „Bedarfe“ und anderes Abstraktes mehr. Mein dringender Appell lautet daher: „Bitte, die Post-Metapher nicht mehr!“

Allen die nun auf der Suche nach neuen, alternativen Begrifflichkeiten sind, zeigt der Satz von heute Morgen im Übrigen, wie die Lösung nicht aussehen sollte: „Oft attribuiert die Psychologie dieses Überhört-Werden in der Öffentlichkeit, den Medien und der Politik auf mangelhafte und unverständliche Kommunikation aus den eigenen Reihen […], auf motiviertes Missverstehen bei den angezielten Adressatinnen und Adressaten […].“ Es mag noch frisch und unverbraucht klingen, aber: Bitte auch nicht „attribuieren“ oder „anzielen“!

Nachdem das nun geklärt wäre, öffne ich das Türchen, husche hinaus und bringe noch schnell die letzten in Schönschrift adressierten Weihnachtskarten zum Briefkasten.

Dank dieses Vertreters der Gattung „Picus“ adressiert der Kalender heute gezielt die Bedarfe der Ornithologen.

3 Antworten auf „Adventskalender

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  1. Hilfe, „überhören“ im Sinne von „overhear“ statt „etwas nicht hören, obwohl es für meine Ohren bestimmt war“, ist mein persönlicher Endgegner.

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    1. Das kannte ich bisher noch nicht, und ich frage mich, wie man sich das Ganze in der Anwednung vorstellen muss. Sage ich dann: „Das habe ich overheard“? Das klänge wirklich zu dämlich.

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      1. Das wird ganz normal deutsch verwendet: „ich hab überhört, wie X und Y über Thema Z sprachen“ und gemeint ist „ich war am Gespräch von X und Y nicht beteiligt, habe aber einiges davon mitbekommen“ (meist ohne dass es X oder Y bewusst ist, dass jemand mitgehört hat). Der Grat zwischen zufällig, unfreiwillig etwas mitbekommen und dann aktiv belauschen statt aktiv wegzuhören ist m.E. schmal.

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