Influenza

Beim Arzt, wo der ältere Mensch sich ja häufiger aufhält, nutze ich die Zeit gerne und gezielt zur Lektüre bestimmter, außerhalb des Wartezimmers völlig nutzloser Zeitungen. Denn Klatsch und Tratsch erfreuen ja prinzipiell altersunabhängig. Ein wenig geschmälert wird dies Vergnügen in letzter Zeit leider immer häufiger dadurch, dass mir die Leute, über die dort in erfrischender Kürze zweifellos pikante, brisante, ja in jede Fall entscheidende Insider-Informationen zu erhalten wären, völlig unbekannt sind. Von Tessa Thompson und Victoria Svarowski zum Beispiel habe ich noch nie gehört. Ein Grund für die zunehmende Fremdheit zwischen mir und den internationalen Lektüregegenständen mag sein, dass die wenigsten der in Wort und vor allem Bild porträtierten Celebritys älter als 40 sind. Dies legt drei messerscharfe Schlüsse nahe: a) Die Zahl der Stars auf dieser Welt, die älter als 40 sind, ist verschwindend gering, b) älter als 40 und ein Star zu sein, schließt sich prinzipiell aus, c) die Zeitungen verzichten aufgrund mangelnden Publikumsinteresses schlicht auf eine adäquate, demografisch repräsentative Berichterstattung. Egal, ob a), b) oder c): Es sieht nicht gut aus.

Sei es drum. Heute mag ich nicht über die schlimme, allgegenwärtige Altersdiskriminierung schimpfen. Denn immer wieder mache ich beim Lesen von „Gala“ ja auch neue, aufregende Entdeckungen. Heute zum Beispiel las ich ein Interview mit Mathieu Carrière (dessen Namen ich dank eines langjährigen Bunte-Studiums im letzten Jahrhundert jederzeit fehlerfrei schreiben kann) und seiner Tochter Elena. Dies Mädchen hat einen interessanten Beruf, von dem anders als von dem Mädchen seit einiger Zeit überall zu hören ist: Elena Carrière ist Influencerin.

Damit hat sie schon mit 20 die gleiche Karriere eingeschlagen und gemacht wie zum Beispiel auch Shirin David (?) und Dagi Bee (??)  und Bibi Beauty (!). Auch diese drei jungen Damen sind waschechte Influencer. Ja, es scheint, dass Influencer neben Castingshow-Teilnehmer der neue Traumberuf ist für junge Leute, die konsequent auf eine Ausbildung und Sinnhaftigkeit ihres Tuns verzichten und trotzdem mehr verdienen möchten als ein einfacher Uni-Professor oder Herzchirurg.

Sich bei der Agentur für Arbeit nach dem dazugehörigen Berufsbild zu erkundigen, hat wenig Zweck, die sind da nicht so schnell und zeitgemäß. Setzen wir also auf saubere, gründliche Recherche, googeln wir mal und lernen wir bald: Wir sprechen von Teenies, die Stars im Internet sind, weil sie sich selbst mit dem Handy filmen. Macht sich der von Neugier und Wissensdurst geplagte, erwachsene Mensch sodann ein noch genaueres Bild vom Wirken von Bibi und Dagi, folgt statt Aufklärung nicht selten Erschütterung. Was soll ich sagen? Ein Blick auf das Lebenswerk der Bibi Beauty lässt viele ratlos zurück.

Das tut Bibis Quasi-Prominenz jedoch keinen Abbruch. Im Gegenteil: Außer für ihre zahlosen Follower bzw. wegen ihrer zahllosen Follower ist Bibi allem für die Werbung interessant, die sich der Jugend und ihrer neuen Verkaufskanäle gerne bedient. Sind Influencer also so etwas wie Klementine, Herr Kaiser und Frau Sommer früher, nur dass sie statt im Fernsehen im Internet agieren? Eher nicht. Denn Klementine und Co. waren Kunstfiguren und machten Werbung für ein Produkt. Influencer dagegen sind ganz und gar sie selbst und promoten auch nur sich selbst. Sie sind also Produkt und Marketing-Instrument in einem. Das aber wiederum ist: der schiere Selbstbezug. Generation Selfie?

Ganz so einfach ist es nicht. Denn jenseits ihrer Verdienstmöglichkeiten, die ehrliche Arbeit noch mehr als Fußballergagen beschämen, sind die Influencer ja weniger Stars als Instrumente. Sie sind vor allem: perfekte Rädchen im Getriebe des Internets. Denn wo das Netz uns Fischchen am liebsten die ganze Zeit damit beschäftigt hielte, dass wir uns etwas anschauen oder dass wir etwas kaufen, arbeiten die Influencer gleich an beiden Zwecken unermüdlich mit: Sie produzieren in fehlgeleitetem jugendlichen Eifer ganz umsonst einen Großteil der für lückenlose Berieselung nötigen Filmchen und helfen gleichzeitig eifrig dabei, alle möglichen Produkte zu verkaufen. Diese unschlagbare Kombi ist vermutlich das Geheimnis ihres für denkende, fühlende Menschen, soziale Schwärmer und Antikapitalisten nur schwer zu ertragenden Erfolgs.

Gleichwohl muss auch der älteste und ungeneigteste Betrachter zugeben: Bibi ist ein gewisses Minimum an eigener Leistung nicht abzusprechen. Bibi hat sich diesen ganzen Unsinn immerhin erst einmal selbst ausdenken müssen. Aber wie es immer ist: Wo die Pest ist, will die Cholera hin. Wo etwas gut läuft, folgen Generika und Trittbrettfahrt auf dem Fuße. Und so strömt es auch aus anderen Berufszweigen derzeit nur so in das neue, boomende Business. Es wird reihenweise umgeschwenkt und umgeschult, sodass andere historisch gewachsene Berufe und ehedem völlig ehrbare Branchen auf einmal gänzlich zu verschwinden drohen. Die Fußballer-Gattin? Der Prominenten-Abkömmling? Haben die Nase voll davon, in der zweiten Reihe zu stehen! Sie drängen in die erste und reklamieren unter dem neuen Label plötzlich Eigenständigkeit! Cathy Hummels? Influencerin! Anne Kathrin Brömmelkamp? Eben!

Aber auch manche allzu früh mit dem Consilium abeundi bedachte GNTM-Absolventin sieht plötzlich ihre Chance und macht auf dem zweiten Bildungsweg noch schnell eine Influencerin aus sich. Und so entsteht dann völlige Verwirrung auf dem Arbeitsmarkt. Ja, wo immer man in den alten Medien heute nicht so recht weiß, was der junge Mensch auf dem Foto eigentlich macht, schreibt man einfach immer Influencer drauf. Die Bild-Zeitung veranstaltet in ihrer Verwirrung inzwischen schon ein eigenes Event zu Ehren der neuen, einflussreichen Branche. (Man will ja keinen Trend und Klick verpassen.) Noch kommt zu dieser Veranstaltung niemand, den man kennt, aber es könnte sein, dass sich der Berufsstand bald schon für neue Altersgruppen öffnet, und dann sind nächstes Jahr auch Natascha Ochsenknecht, Marc Terenzi und Claudia Effenberg mit dabei.

Ehrlich gesagt sehe auch ich hier meine Zukunft. Ich habe nichts Richtiges gelernt, ich habe jetzt einen Blog, und gegen unverdient verdienen habe ich auch nichts. Ich denke, der erste Schritt ist getan.

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2 Kommentare zu „Influenza

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  1. „Ein wenig geschmälert wird dies Vergnügen in letzter Zeit leider immer häufiger dadurch, dass mir die Leute, über die dort in erfrischender Kürze zweifellos pikante, brisante, ja in jede Fall entscheidende Insider-Informationen zu erhalten wären, völlig unbekannt sind.“ ich lache mich gerade schlapp vor meinem rechner. das kommt mir so bekannt vor. ich lebe in holland und von den leuten im dschungelcamp hatte ich zuvor noch nie gehoert. danke fuer den amuesanten blog post!

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